Mithgar 16 - Drachenmacht
müssen wir uns auf den Rückweg machen!« Aravan zuckte nur mit den Schultern.
»So weit bin ich bisher gekommen, Kind. In diesem Funkeln erblicken wir den Kern der Schöpfung, das Herz von allem … den Anfang und das Ende. Hier ist der Nabel von allem, von allem, was ist, was war und was sein wird. Alle Dinge, Feuer, Wasser, Wind, Erde, der Äther, all diese Dinge sind aus diesem Stoff erschaffen … der Puls der Zeit, die Ausdehnung des Raumes, die Dauer einer Sache, die Menge der Energie.«
Faeril betrachtete die wirbelnden Funken. »Alle Dinge, Dodona? Was ist mit dem Verstand, der Seele, dem Geist, den Herzensangelegenheiten? Bestehen auch sie nur aus diesen Funken?«
Der Alte dachte nach. »Ah, Liebes, jetzt tauchst du in die letzten Mysterien ein. Diese Fragen kann ich nicht beantworten, und doch sind es eben die Antworten, die ich ewig suche.«
Erneut blickte der Alte hoch. »Wartet!«
Halid saß neben Riatha. »Uns bleibt nur noch ein Tag, aber vielleicht kann ich uns sieben weitere verschaffen.«
Riatha sah den Reichsmann an. »Wie?«
Halid deutete nach Norden. »Wenn ich nur mein schnelles hajin und Reigos nehme, dazu zwei Ziegenschläuche mit Wasser und ein bisschen Proviant, und dann die Kamele wechsele, so kann ich Sabra in sechs Tagen erreichen, vielleicht sogar in weniger. Hujun können mehrere Tage lang hundert Meilen am Tag zurücklegen.«
Riatha nickte. »Ja, Halid. Das ist ein guter Plan. Sollte Faeril nicht rechtzeitig aufwachen, werden wir ihn umsetzen.« Dann blickte sie wieder in den Ring von Dodona, wo sich Gwylly treu um seine Faeril kümmerte.
Sie schwebten vor einer kristallenen Scheibe, die das Davor, Darauf, Dahinter und das Selbst zeigte.
Faeril sah wie durch ein halb versilbertes Glas. Die Vision Davor zeigte eine rote Zitadelle, die sich in die Berge schmiegte; der Blick Daraufzeigte einen Mann in Ketten; die Reflektion Dahinter schließlich spiegelte eine Bergfeste.
»Die Zeit«, sagte Dodona, »ist hier im Kristall erstarrt, und dennoch sind alle Zeiten gültig.
Der Blick Davor repräsentiert die Zukunft; doch was gezeigt wird, ist nicht, was sein muss, sondern nur, was sein kann.
Die Reflektion Dahinter ist die der Vergangenheit, oftmals verwirrt durch viele Bildnisse und miteinander widerstreitende Spiegelungen.
Der Blick Daraufist eine Ansicht der Gegenwart, oft verzerrt durch das Selbst.
Und der Anblick des Selbst ist das Selbst, und er verhindert häufig, irgendetwas klar zu erkennen.«
Faeril betrachtete ihr Spiegelbild und dann Dodonas silberne Flamme. Plötzlich wusste sie - ohne zu begreifen, woher -, dass sie den wahren Dodona sah, und dass dieses Orakel jede Gestalt annehmen konnte, die ihm beliebte, die eines Alten, eines Kindes, eines Elfen, eines Mannes, einer Frau, was auch immer ihm beliebte.
Dodona lachte. »Wie ich sehe, hast du eines meiner Geheimnisse entdeckt.«
Faeril sah ihn staunend an. »Ihr habt eine Macht, die der von Urus gleicht, die Macht, Eure Gestalt zu wandeln, meine ich.«
»Viel mehr, Kind, sehr viel mehr…«
Faeril klatschte in die Hände. »Oh, was für eine wundervolle Gabe Ihr besitzt! Ich wollte schon immer wie ein Falke fliegen …!«
Sie hörte Dodonas Schrei nicht mehr, denn die Verwandlung hatte sich bereits vollzogen.
Halid, der neben Gwylly saß, schrie eine Warnung, denn plötzlich flammte ein goldenes Licht in dem Hain auf, und Windspiele läuteten. Ebenso abrupt erlosch der Schein und verstummte das Läuten - und Faeril war verschwunden. An ihrer Stelle stand ein Falke, dem ein blauer Stein an einem Lederband um den Hals hing. Ein Kristall lag neben ihm auf dem Boden.
Das Tier war wild, ungezähmt, seine großen, bernsteingelben Augen leuchteten, und es entfaltete seine Schwingen, um sich in die Lüfte zu erheben.
Im selben Augenblick zuckte ein silberner Blitz aus dem Kristall, der den ganzen Ring mit seiner Helligkeit erfüllte. Weder Gwylly noch Halid konnten etwas sehen oder hören, denn die Luft waberte von silberhellem Läuten. Riatha, Urus und Aravan stürmten in den Ring und wurden ebenfalls geblendet und betäubt. Aber alle empfanden einen überwältigenden Drang, in den Ring zu treten und wieder hinaus. Das blendende Licht erlosch, das Läuten ebbte ab, und als sie erneut sehen und hören konnten, lag Faeril schlafend vor ihnen, den blauen Stein und den Kristall in ihren Fäusten.
Der Falke war verschwunden.
»Närrin!«, fuhr Dodona sie an. »Im Kristall sind alle Gestalten möglich!
Weitere Kostenlose Bücher