Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition)
Milanese oder Saltimbocca alla Romana?«
Seitdem Hans seine Theorie vom Palermoaufenthalt des Hugo Steinwedel verbreitet, wird jedes fasrige Rindsschnitzel zum Filetto di Manzo, der Freitagsfisch zum Branzino und der Linsen-Karotten-Eintopf zum Stufato Grusico. Sylvia lächelt Hugo an und stupst ihn mit dem Zeigefinger am Oberarm, wenn seine Hand auf halbem Weg zum Mund stecken bleibt.
So vergehen Hugo Steinwedels Tage. Sitzen, aus dem Fenster schauen und angestupst werden. Der Psychiater zuckt mit den Schultern, er hat andere Sorgen. Auf Station Vier geht es nicht mehr um ein bisserl Sucht, dort schlurfen jene durch die Gänge, denen die Psychiatrie zur Heimat geworden ist. So unrecht hat Hans also nicht, wenn er meint, dass Hugo glücklich ist. Wenn einer gar nichts mehr spürt, dann kann das manchmal auch ein Glück sein.
Marie kommt jedes zweite Wochenende. Jakob hat ohnehin keine Zeit, und Marie hat es aufgegeben, verstehen zu wollen, wie man Quantenzustände teleportiert, um Daten sicher zu verschlüsseln.
Hinter den Fensterscheiben der Sigmund-Freud-Klinik fällt das letzte Laub von den Bäumen. Der Nebel hinter den Fenstern unterstreicht die heimelige Stille. Marie mag die Ruhe hier. Sie sitzt neben dem Vater, sieht hinaus in den Garten, und manchmal spricht sie, ganz leise nur, denn wenn man keine Antwort bekommt, werden die Sätze gleich nackt, bekommen etwas Exhibitionistisches.
»Weißt du«, sagt sie, »vielleicht sind wir uns gar nicht so unähnlich. Wo ich doch selbst andauernd an Joe denken muss. Vielleicht hänge ich auch zu sehr an den Toten.«
Hugo bekommt von Maries Sätzen nichts mit, seine Hand liegt in der Sofias, und die ist klebrig vom Saft der Orangen, der ihr aus dem Lachmund quillt. Sie sitzen am Hafen, Hugo schält Orangen und steckt seiner jungen Frau die Spalten in den Mund. Wie mit einer Pfauenfeder kitzelt ihn die Sonne auf der Nasenspitze, bringt ihn zum Niesen und Sofia zum Kichern. Hugo lässt seine Hand in der Sofias zucken, die Bewegung pflanzt sich fort, bis zur Hand der Tochter, die nun wiederum die Hand des Vaters drückt und ihren Kopf an seine Schulter lehnt, als würde jeder von der Anwesenheit des anderen wissen, als wären sie eine kleine glückliche Familie, Vater, Mutter, Kind.
Am Abend steigt Marie wieder in den Zug und fragt sich, wann sie es endlich schaffen wird, die Großmutterwohnung zu betreten. Nächstes Mal, sagt sie sich immer und immer wieder, und versucht, die Gedanken an verschimmelte Lebensmittel aus dem Kopf zu bekommen. Was, wenn der Vater nicht mehr aufwacht? Wie viele Jahre kann man reglos in einem Rollstuhl sitzen und vor sich hin starren?
In Wien streicht ihr Jakob übers Haar. Er, der alles über sie wissen sollte, weiß nur wenig von Hugo Steinwedel. Schon gar nichts weiß er von dessen unauslöschlicher Liebe zu seiner toten Frau Sofia. Jakob stellt sich die Psychiatrie als den schlimmsten Ort vor, den man sich ausmalen kann. »Unvorstellbar, dass sich manche freiwillig dort hineinbegeben«, sagt er. »Ich hab einmal eine Studienkollegin gehabt, die hat sich selbst eingewiesen, angeblich weil sie depressiv war. Dabei sind Depressionen hausgemacht«, ereifert er sich, »die Leute wissen sich bloß nicht zu beschäftigen. Man braucht nur eine Aufgabe, dann verschwinden die Depressionen ganz von allein.«
Das mit dem Vater sei natürlich etwas anderes, streicht er Marie ein wenig schneller über den Kopf, dagegen könne man nichts tun, auch als Tochter nicht, das sei Schicksal, und gegen das Schicksal sei man machtlos.
Marie sieht die Mutter vor sich, die immer am Fenster gestanden ist, den halben Tag lang, so wie der Vater jetzt am Fenster sitzt. Dabei hätte Sofia eine Aufgabe gehabt, denn Sofia hatte eine kleine Tochter. Aber was weiß Jakob schon von solchen Dingen? »Die Mutter hatte einen Unfall beim Fensterputzen«, hat sie ihm erklärt, und er hat nicht weiter nachgefragt.
7 Sonja wischt den Lidstrich wieder weg und flucht. Dass sie hier vor dem Spiegel steht und sich für einen Fremden hübsch macht, hat sie ganz allein Jakob zu verdanken. Hätte er sie nicht verlassen, würde sie jetzt gemütlich vor dem Fernseher sitzen. Stattdessen trifft sie sich mit einem Hobbyfilmer aus dem Internet. Einer, der seinen Abschluss an der Filmschule in Köln gemacht hat und jetzt beim Roten Kreuz arbeitet. Wie soll so einer ihre Zukunft sichern? Ich werde hingehen, und danach werde ich wieder nach Hause fahren, und das war’s dann. Sonja
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