Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition)

Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition)

Titel: Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margarita Kinstner
Vom Netzwerk:
lauscht in die Dunkelheit und lässt die Bilder der Vergangenheit vorbeiziehen. Jedem Schnarchen Jakobs folgt sein feuchter Atem, wie eine nasse Kröte setzt er sich auf ihren Nacken. Marie zieht die Bettdecke bis zum Kinn, greift nach hinten, über die Schulter, bedeckt den Hals bis zum Haaransatz. In Momenten wie diesem ist sie auf einmal nicht mehr sicher, ob sie Jakob noch liebt. Dann kann sie plötzlich nicht mehr schlafen, mit seinem Arm über ihrem Kopfpolster, so, dass sie nicht weiß, ob sie den Kopf darunter legen soll, dorthin, wo kein Polsterrest mehr ist, oder ob sie seinen Arm zur Seite schieben, ihn zum Aufwachen bringen soll, oder darauf warten, dass er sich schmatzend umdreht und sie nicht von neuem umarmt, sich an sie klammert und Rücken an Rücken weiterschläft, ohne die von ihr erzeugte Distanz zu bemerken.
    Am nächsten Morgen ist das Gefühl wieder verflogen, streicht sie ihm liebevoll über die stachelige Wange und hat Joe vergessen. Und das ist auch gut so, denn was ist Joe schon anderes als eine lästige Erinnerung, die man morgens mit dem Zahnpastawasser in den Ausguss spuckt?

13  Für Hedi Brunner ist die diesjährige Weihnachtszeit die glücklichste seit einundsechzig Jahren. Zwar bäckt sie keine Kekse mehr, kann auch kaum noch welche essen, dafür isst Gery umso mehr davon. Die Vanillekipferl sind von der Bäckerei ums Eck, Hedi hat Gery losgeschickt, welche zu kaufen. Jetzt sitzen sie einander gegenüber, Hedi in ihrem Schaukelstuhl, Gery im geblümten Sofasessel, und da passiert es, dass er ihr von seinem besten Freund Joe erzählt, der sich im Sommer einfach nach hinten hat fallen lassen, von der Rossauer Brücke in den Donaukanal, und nicht wieder aufgetaucht ist. Und kaum hat Gery zu erzählen begonnen, schon kann er nicht mehr damit aufhören. Also erzählt er von der Schmelzbrücke, von Joes Weingläsern, von den Marionetten, die er dort hat tanzen lassen, und auch von Marie erzählt er, Joes zweiter Apfelhälfte, und wie es dann doch nicht geklappt hat mit den beiden.
    »Dabei hat Joe sie wirklich geliebt«, sagt er. »Aber statt zu ihr zu fahren, ist er stundenlang irgendwo sitzen geblieben, hat von ihr geschwärmt, während sie darauf gewartet hat, dass er zu ihr kommt.«
    Hedi wippt mit dem Schaukelstuhl, in ihren Augenwinkeln breiten sich leuchtende Fächer aus, endlich hat ihr jemand etwas Interessantes zu erzählen, ganz anders als die Tochter, die ihr immer nur von den Unpässlichkeiten ihres Norbert berichtet und von den Rezepten dagegen, Haferschleimsuppe, Kamillentee, Kümmelzwieback.
    Gery erzählt in Hedis Wippen hinein, von den Abenden, an denen Joe Marie warten ließ, von acht Uhr abends bis zum Schlafengehen, wie er dann doch noch bei ihr aufkreuzte, weit nach Mitternacht, und sich wunderte, dass sie schon im Bett lag und ihm nicht mehr öffnete. Wie er sie von der nächsten Telefonzelle anrief und sie wütend in den Hörer schrie, und wie Joe am nächsten Tag zu Gery sagte: »Marie wird sich schon wieder beruhigen, die kann mir gar nicht böse sein. So ist das, wenn man füreinander bestimmt ist.«
    »Aber so etwas lässt man sich doch nicht auf Dauer gefallen!«, sagt Hedi.
    »Marie …« Gery stellt die Teetasse ab. »Marie war todunglücklich. Die hätte bei Gott einen Besseren verdient gehabt als Joe. Aber sie war eben vernarrt in ihn, so wie alle Frauen in ihn vernarrt waren.«
    »Aber wenn dein Joe diese Marie doch so geliebt hat …«
    Hedi spricht den Satz nicht zu Ende. Wie wenn Liebe allein ausreichen würde, denkt sie. Ich hätte damals ja auch nach Russland fahren können,
sieh her, wir haben ein Kind
, vielleicht hätte sich der Ilja sogar gefreut, vielleicht hat er es ja ernst gemeint, als er mich gefragt hat, ob ich mit ihm nach Leningrad kommen möchte. Stattdessen hab ich das Kind in Wien zur Welt gebracht, still und heimlich, nicht einmal geschrieben hab ich ihm, und dann hab ich den Buben hergeschenkt, einfach so in den Stadtpark getragen und einer Fremden in die Arme gelegt.
    Hedi kommt nicht dazu, weiter darüber nachzudenken, denn Gery erzählt jetzt von dem Abend, an dem sein Freund vor seinen Augen in den Donaukanal gesprungen und nicht wieder aufgetaucht ist. Wie die Polizei ihn aus dem Donaukanal gefischt hat, und wie er erst am nächsten Tag in den Nachrichten davon gehört hat.
    »Und jetzt denkst du, dass es deine Schuld war?«, fragt Hedi. Sie geht zur Vitrine, nimmt zwei kleine Gläser und die Cognacflasche heraus.
    Es ist Gery

Weitere Kostenlose Bücher