Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition)
die Jakob täglich trinkt, und so eine mit Fröhlichkeit angereicherte Luft wirkt ja bekanntlich belebend auf Hirn und Herz. Liebestrunken stolpert er durchs Leben, vom Labor zu Marie, von Marie zum Labor, vom Labor zum Boltzmann Institut, und nie, so glaubt er, ist er glücklicher, zufriedener gewesen. Maries Lachen ist ganz anders, als Sonjas Lachen es gewesen ist, Maries Lachen ist ständig vorrätig, Maries Lachen gibt es gratis dazu. Maries Lachen ist wie ein Naturgesetz, und Naturgesetzen hat Jakob schon immer vertraut.
Marie, kleine Laetitia Marie, geboren, um die Welt um sie herum mit ihrer Fröhlichkeit zu verzaubern. So entkommt keiner dem, was ihm bestimmt ist, Jakob nicht der Physik und Marie nicht der Fröhlichkeit. Wie die Julisonne ihre Strahlen verströmt und mitunter auch Hautteile versengt, umhüllt Marie die Menschen mit ihrer guten Laune. Gegen die Sommersonne gibt es Schutzfaktor fünfzig, gegen Maries lächelnde Fröhlichkeit gibt es kein Mittel. Deswegen geht man ihr in der Arbeit mit freundlichem Gesicht entgegen und in der Freizeit aus dem Weg, denn wer lacht schon gerne mit einer, die mit jedem lacht? Arme Marie. Die Mutter hat sie nicht zum Lachen bringen können, den Vater auch nicht, und sogar bei Joe hat sie versagt. Kein Wunder also, dass sie die Fröhlichkeit nur auf den Lippen trägt. Wie das von Jakob verschränkte Photonenpaar, das seinen Quantenzustand erst im Moment der Messung annimmt, lächelt Marie, sobald Jakob hinsieht, lächelt, wenn er spätabends nach Hause kommt, lächelt, wenn sie ihn am Morgen aus verschlafenen Augen ansieht, lächelt sogar, wenn sie vom stummen Vater heimkommt und ihren Kopf auf Jakobs Brust legt.
Und so vergeht der Advent, der Wind rüttelt die restlichen Blätter von den Bäumen und die Raben beziehen ihr Winterquartier im Augarten.
Und dann liegt auf einmal Palicinis Brief im Postkasten, weiß wie der Wintervollmond in einer Dezembernacht. Eine Testamentseröffnung im Wiener Wurstelprater? Das kann doch nicht sein, so etwas kann es nicht geben können, denkt Marie, als sie das Kuvert im Stiegenhaus öffnet.
Den Brief eilig in die Tasche gesteckt, steigt sie die Treppen zur Wohnung hinauf, wo sie eine Überraschung erwartet: Jakob, in Kochschürze mit Tomatenflecken und Knoblauchgeruch. Ausgerechnet heute ist er früher nach Hause gekommen, um für sie zu kochen. Marie stellt Weingläser auf den Tisch, und während Jakob von Professor Blasbichler erzählt, von sicheren Banküberweisungen mittels Quantenkryptographie und zukünftigen Rechenleistungen, denkt Marie an den Brief in ihrer Handtasche. Erste Wiener Hochschaubahn, fünfzehnter Juli, fünfzehn Uhr. Eine Testamentseröffnung im Prater? Was hat das zu bedeuten? Hatte Joe seinen Tod geplant? Ist es vorstellbar, dass jemand seinen Tod plant, nur um eine verrückte Idee in die Tat umzusetzen?
Keine Ruhe lassen ihr die Gedanken an den Brief in ihrer Tasche, den sie Jakob nicht zeigen will, und so denkt sie auch noch an Joe, als sich Jakobs Brust friedlich hebt und senkt und ein leises Schnarchen in die Stille der Nacht entlässt.
Ach Joe, er geistert in den Köpfen der Hinterbliebenen, saust durch Zimmer, pfeift um Häuserecken und verfängt sich in Liftschächten. Als Geist hast du es gut, da kannst du überall hinein, da gibt es keine Barrieren mehr. Und so denken in dieser Nacht alle an ihn, Gery an den Freund, den er verloren hat, die Mutter an den Sohn, den sie nie wirklich gekannt hat, Willi an den Neffen, über dessen Bauchnabel seine Hand gestrichen ist, und Marie an die Hand, die ihr durchs Haar gefahren ist. Joes Hand in ihrem Haar und ihr Haar auf seiner Brust, die Augen geschlossen, Sonne durchs Fenster, helles Orange hinter heruntergeklappten Lidern, das Rattern der Westbahn im Ohr, das Bauschen des Vorhangs im Wind als zarte Berührung, blaue Blümchen auf weißem Jacquard. Seine Hand in ihrem Haar, und alles war Zärtlichkeit. Ins Haar hat er ihr Märchen von Marillenmädchen und Zwetschkenpflückern erzählt, von Narren und Gauklern, und sie ist mit geschlossenen Augen dagelegen, den Kopf auf seiner Brust, die Hand mit dem Vorhang spielend, und hat zugehört.
Nur wenn Joe geschlafen hat, ist er selbst zum Kind geworden, den Kopf in Maries Achselhöhle, den Arm fest um sie geschlungen, auf seiner ewigen Suche nach Geborgenheit. Hat sie versucht, sich zu bewegen, sich ein wenig Freiraum im zu engen Bett zu verschaffen, hat Joes Arm sie nur noch fester umschlossen.
Marie
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