Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition)
schon die letzten Male aufgefallen, dass die Flasche rasch leer und durch eine neue ersetzt wird. Nicht, dass er Hedi jemals betrunken gesehen hätte, trotzdem macht er sich Sorgen. Sie ist zu oft allein, denkt er.
»Weißt du, was ich glaube?«, sagt er, als sie mit den Gläsern wiederkommt und einschenkt. »Ich glaube, Joe wollte das so. Der hat seinen Abgang geplant gehabt und ich sollte ihn dabei filmen. Es war ja eine fixe Idee von mir, einen Film über ihn zu drehen. Ich hatte auch schon genug Material beisammen. Das hab ich Joe auch an jenem Abend gesagt. Dass ich alles bloß noch schneiden müsste.«
Er stößt mit ihr an und trinkt sein Glas leer.
»Joe ist gerne von Brücken gesprungen. Sogar von der Reichsbrücke ist er einmal gehüpft. Der hatte keine Angst, zu ertrinken.«
Hedi dreht ihr Glas. Warum hat sie Gery bloß so gern? Nur, weil er sie an Ilja und ihren kleinen Wassily erinnert? Ist der Mensch wirklich so einfach gestrickt, dass ein Paar blauer Augen ausreicht?
Wie gerne sie ihm helfen würde. Er leidet unter dem Tod seines Freundes, das spürt sie schon seit langem. Wenn man jemanden verliert, den man liebt, kann man daran zerbrechen. So etwas zu flicken, dauert seine Zeit, und selbst dann sieht man es einem ein Leben lang an, das Auseinandergebrochen- und wieder Zusammengeflicktsein.
Unter dem Schaukelstuhl knacksen die Parkettbretter. Hedi sieht Gery dabei zu, wie er aufsteht, mit der rechten Hand in die Gesäßtasche fährt und einen zerknitterten Briefumschlag herausfischt.
»Was ist das?«, fragt sie, als er ihr das Kuvert hinhält. Sie greift nach dem weinroten Brillenetui, holt den Brief aus dem Kuvert, entfaltet ihn, setzt die Brillen auf, liest von der Testamentseröffnung im Prater, Treffpunkt fünfzehnter Juli, fünfzehn Uhr, bei der alten Hochschaubahn. Das kann nicht sein, denkt sie, doch die Worte stehen da, schwarz auf weiß.
»Eine Testamentseröffnung im Prater?«
Auf einmal sieht sie ihren verstorbenen Mann vor sich, am Blumenkorso neunzehnhundertachtundvierzig, wo sie einander kennengelernt hatten, drei Jahre nach Kriegsende, als sie schon längst kein Kind mehr hatte. Sie stand neben ihrer Freundin Inge und deren Verlobtem Fritz, inmitten der jubelnden Menge, neben ihr Ernst Brunner. Überall sah man Blumengirlanden, Fliederkronen und fröhliche Gesichter. Für Ernst Brunner, einem Freund von Fritz und Ablenkungsversuch Inges, die der Meinung war, Hedi müsse sich endlich wieder einmal amüsieren, war sie die Königin des Korsos. Die ganze Zeit über sah er nur sie an, doch Hedi wurde vom Geruch des Flieders übel, die vorbeifahrenden Wagen verschwammen vor ihren Augen zu bunten Schlieren, und das Nächste, woran sie sich erinnern kann, ist ihre Freundin Inge, die ihr die Wange tätschelte.
Wäre ihr damals nicht schlecht geworden von all dem Flieder und der Erinnerung, hätte Ernst ihrer Freundin nicht mit zum Schwur erhobener Hand versprochen, sie heil nach Hause zu bringen, vielleicht wäre dann alles ganz anders gekommen.
Aber wäre es besser gewesen?
Der Prater und der Flieder. Hedi konzentriert sich wieder auf das Schreiben in ihrer Hand. Im Juli blüht kein Flieder, und Blumenkorso gibt es auch schon lange keinen mehr.
»Ich an deiner Stelle würde hingehen«, sagt sie. »Allein schon, um herauszufinden, was das Ganze soll. Und wenn es wirklich stimmt, dass dein Freund absichtlich vor deiner Kamera in den Tod gesprungen ist, dann musst du erst recht dorthin.«
14 Der Winter nimmt einen kräftigen Anlauf und kommt als Schneegestöber auf Straßen und Gassen herunter. Ganz Wien steckt im Verkehr fest, alles hupt, aus den Lautsprechern der Straßenbahnhaltestellen bedauert man die wetterbedingte Verzögerung, eisig glitzern Radwege im Morgendunkel und bringen die vorweihnachtlichen Boten des Veloce-Service ins Schlittern.
Und dann ist es endlich so weit, Weihnachten, du heilige, familienschwangere Zeit. Traude Stierschneider schmückt den Tannenbaum mit Holzäpfeln und roten Kerzen, ganz wie früher, als Jakob noch klein war. Heute ist er es nicht mehr, heute wird er ihr seine neue Freundin vorstellen. Was das wohl für eine sein mag? Ein wenig gekränkt hat sie sich ja schon, dass der Bub so lange nichts gesagt hat. Sonja hat er verlassen, einfach so, und jetzt hat er eine Neue. Fünf Monate geht das schon, und sie erfährt es wieder einmal als Letzte.
Traude Stierschneider ordnet Teller und Gläser an, schmückt den Tisch mit Tannenzweigen und
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