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Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition)

Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition)

Titel: Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margarita Kinstner
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sich letztendlich doch an der Fakultät für Physik ein. Den spitzen Bemerkungen der Professoren ging er mit einem Achselzucken aus dem Weg, und schon bald hatte sich herumgesprochen, dass der Bub vom Stierschneider nicht hielt, was der Vater versprach. Jakob war zwar intelligent, doch mangelte es ihm an Ehrgeiz. »Ewig schade«, flüsterte man hinter vorgehaltener Hand, »aber was soll man machen.«
    Das Studium absolvierte Jakob in Durchschnittszeit, ohne sich sonderlich anzustrengen. Danach trat er seinen Zivildienst an, hielt Vorträge zur Verdeutlichung von Umweltbelastungen und präsentierte PowerPoint-Folien über gelungene Maßnahmen zur nachhaltigen Entwicklung im Umweltbereich. Bei dieser Arbeit kam er das erste Mal mit Menschen außerhalb seines Studiums zusammen, die es nicht störte, wenn er von der Photonenverschränkung und dem Bell’schen Theorem schwärmte.
    Als das Jahr zu Ende ging, sprach der Vater von Zukunft und Doktorarbeit und stellte Jakob seinem Kollegen Blasbichler vor, einem Mann mit Hakennase und Haarkranz, den Jakob bereits aus einigen Vorlesungen kannte. Es war offensichtlich, dass der Professor Jakob nicht leiden konnte und ihn für einen Faulenzer hielt. Deswegen wunderte es Jakob umso mehr, als er ausgerechnet ihm die offene Assistentenstelle anbot.
    Auf einmal durfte er dabei sein. War selbst derjenige, der die Lichtteilchen auf den Kristall lenkte und durch kilometerlange Glasfaserkabel schickte, Ausdrucke auswertete und die Ergebnisse zusammenfasste. Und da geschah, womit keiner mehr gerechnet hatte: In Jakob brannte plötzlich ein Feuer. Wie ein Besessener saß er nächtelang im Labor und versuchte herauszufinden, warum ihnen so viele der verschränkten Photonenpaare verloren gingen. Unter seinen Augen wuchsen Schatten und in seinen Ohren hallte Sonjas Keppelton nach: »Das ist doch verrückt, du warst doch früher nicht so, du machst dich ja komplett kaputt und mich dazu!«
    Und dann kam Marie.
    Die Liebe verleitet einen zu Höhenflügen und befähigt zu Dingen, die niemand für möglich halten würde. Deswegen brodelt und schäumt neuerdings alles in Jakob, nicht nur die Liebe, sondern auch der Ehrgeiz. Gut, Jakobs Kollegen haben auch eine Menge Ehrgeiz, ohne den geht es in der Forschung nicht. Aber Jakob hat obendrein das, woran es vielen mangelt, etwas, das nur wenige vom Schöpfer geschenkt bekommen. Jakob hat die richtige Intuition, den richtigen Riecher. Schließlich spricht man nicht umsonst von der Nasenlänge, die der eine dem anderen voraus ist. Deswegen hat, seitdem Jakob sich mit Elan in das Projekt stürzt, sogar Professor Blasbichlers Lieblingsstudent Tamás das Nachsehen. Nun wird vielleicht doch nicht er, sondern Jakob den Professor nach Helsinki begleiten dürfen. Und so überlegt der durch und durch bodenständige Tamás neuerdings ernsthaft, sich in den Voodoo-Künsten unterrichten zu lassen.
    Jakob bekommt vom Neid seines Kollegen nichts mit, Einfühlungsvermögen ist nicht seine Stärke. Zwischenmenschliche Dinge nimmt er nur wahr, wenn man sie verbal an ihn heranträgt, der Mensch hat schließlich einen Mund, um sich mitzuteilen, anders als ein Photon, dessen Polarisierung erst gemessen werden muss.
    Ach, wenn Jakob nur wüsste, wie sehr die Menschen den verschränkten Photonenpaaren, mit denen er täglich zu tun hat, gleichen! Dass auch sie nach Aufmerksamkeit schreien, dass so manches Lächeln erst im Augenblick der Beobachtung mit Lichtgeschwindigkeit auf das Gesicht gezaubert wird. Aber so ist das bei Naturwissenschaftlern manchmal. Sosehr sie bereit sind, sich den Kopf zu zermartern, wenn es um Fehlerquellen in ihren Experimenten geht, so wenig forschen sie in den Gesichtern ihrer Mitmenschen. Wer macht sich schon Gedanken über den Zustand eines Lächelns vor seiner Beobachtung? So wird auch Marie erst einen Satz sagen müssen, der Jakobs Weltbild von einer auf die andere Sekunde auf den Kopf stellen wird. Vorerst bekommt er jedoch nicht viel mit, weder von Tamás (der ihm ohnehin egal ist) noch von Marie (die ihm alles andere als egal ist). Jakob sieht nur ihren süßen Mund, dessen Lippen sich beim Lesen immer ein wenig nach vorne stülpen, ganz so, als sauge sie das Gelesene mit einem Strohhalm ein. Er sieht ihr Lächeln, sieht es morgens, wenn sie die Augen aufschlägt und sich verschlafen den Sand aus ihnen reibt, sieht es abends, wenn er zur Tür hereinkommt und die Jacke auf den Haken hängt. Maries Lächeln ist überall, es erfüllt die Luft,

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