Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition)

Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition)

Titel: Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margarita Kinstner
Vom Netzwerk:
dann drückt er Anna einen Kuss auf den Mund.
    »Bestimmt hat die Traude schon alles hergerichtet, den Erdäpfelsalat, den Christbaum und die Weihnachtskekse«, sagt er, schlüpft in den Mantel und rennt aus der Wohnung. Dann dreht er sich noch einmal um, »frohe Weihnachten« will er sagen, doch Anna hat die Tür bereits geschlossen.
    Zu Hause legt Norbert den flachgedrückten Fisch auf die Vorzimmerablage.
    »Stell dir vor, der Mayer ist gestorben«, sagt er zu seiner Frau, die gerade Watte zwischen die Tannenzweige steckt.
    »Der Mayer? Aber der war doch noch keine fünfundsechzig!«
    »Leberkrebs hat er gehabt. Dabei hat er nie etwas getrunken. Der Hans hat es mir erzählt, ich hab ihn am Elterleinplatz getroffen. Hat auch nicht gerade wie das blühende Leben ausgeschaut.«
    »Alt darf man heutzutage nicht werden«, sagt Traude. »Alle kriegen sie den Krebs, da kann man froh sein, wenn es halbwegs geschwind geht und man nicht zu lange leiden muss. Einschlafen müsst man, so wie die Urgroßmutter, die ist über ihrer Stickerei gestorben, ganz friedlich soll sie dreingeschaut haben. Aber heutzutage, da lassen sie einen ja nicht mehr sterben, da reanimieren sie einen gleich wieder, wozu soll denn das gut sein? Wie bei der Gilde-Tant, die haben sie auch dauernd an irgendwelche Maschinen angeschlossen, dabei hat sie nur noch sterben wollen. Und dann ist auch noch der Sohn vor ihr gestorben, kannst dich erinnern, der Toni hat auch den Leberkrebs gehabt, und die Gilde hat mit vierundneunzig noch die Lungenentzündung überlebt. Wäre gescheiter gewesen, sie hätten sie sterben lassen, dann hätte sie nicht auch noch miterleben müssen, dass das eigene Kind vor ihr stirbt …«
    »Jetzt hör schon auf«, zischt Norbert. »Du verdirbst einem ja noch die Weihnachtsstimmung.«
    Inzwischen feiert Traudes Mutter Weihnachten, wie sie es seit Jahren nicht mehr gefeiert hat. Ohne Pflichtbesuch, ohne Familientreffen, ohne Traudes Perfektionismus. Über Mittag hat sie sich herausgeputzt, jetzt sitzt sie im Bellaria-Kaffeehaus und klappert mit dem Löffel in der Tasse. Kurz nach eins hat Gery sie mit dem Taxi abgeholt. »Lass dich überraschen«, hat er gesagt, als sie ihn gefragt hat, wohin er mit ihr fahren will. Jetzt trinken sie Kaffee und plaudern. In einer Stunde beginnt der Film, eine Romanze aus dem vierunddreißiger Jahr, mit Willi Forst und Magda Schneider.
    Hedi fallen ein paar Tränen auf den Schoß.
    »Wieso weinst du?«, fragt Gery und beugt sich besorgt über den Tisch.
    »Ach, ich bin einfach nur glücklich«, flüstert sie und wischt sich mit der Serviette über die Wangen. Du dumme Alte, schilt sie sich, du verdirbst mit deiner Sentimentalität noch die ganze Stimmung.
    In der Magengegend gurgelt und grummelt es wieder, wie schon den ganzen Vormittag. Dabei hat sie extra nichts gegessen, und auch jetzt trinkt sie koffeinfreien Kaffee, schwarz, ohne Zucker. Wie unangenehm es ihr doch wäre, wenn sie während der Vorstellung Durchfall bekäme! Sie würde es auf die Blase schieben müssen. »Alte Frauen müssen eben öfter aufs Klo«, würde sie scherzen. Das Glucksen im Magen hört auf. Gott sei Dank. Zu Hause wird sie einen kleinen Cognac trinken, danach wird es ihr wieder besser gehen.
    Das Kaffeehaus ist weihnachtlich geschmückt, mit bunten Lichtern und rot-goldenen Platzsets. Im Hintergrund spielt leise Weihnachtsmusik. Noch ist es früh, fünfzehn Uhr, treffen sich die Jungen und Alten im Kaffeehaus, während die mittlere Generation das Essen vorbereitet.
    »Feierst du denn gar nicht mit deiner Familie?«, hat Hedi vor einer Woche gefragt, als Gery sie gebeten hat, den Vierundzwanzigsten mit ihm zu verbringen, doch er hat nur abgewinkt, seine Familie wohne in Oberösterreich und er habe schon lange kein Bedürfnis mehr, sie zu sehen.
    Und jetzt sitzt sie wirklich mit ihm im Café Bellaria, sieht in seine lichtblauen Märzhimmelaugen und stellt sich vor, dass ihr kleiner Wassily vielleicht auch einmal so ausgesehen hat, als er noch keine einundsechzig gewesen ist.
    Die Stunden vergehen, draußen ist es längst dunkel, nur die künstliche Weihnachtsbeleuchtung glitzert hell über den Hauptstraßen. Der Heilige Abend bricht an, Familien setzen sich an den Tisch, und nicht in jedem erleuchteten Wohnzimmer der Stadt verläuft der Abend harmonisch.
    Marie lernt Jakobs Eltern kennen, setzt ihr Lächeln auf und gewinnt sofort Traudes Herz für sich. Sonja verbringt den Abend bei ihren Eltern und erinnert sich

Weitere Kostenlose Bücher