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Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition)

Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition)

Titel: Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margarita Kinstner
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der Reihe vor ihnen Platz, wehende blonde Zöpfe, Kreischen jedes Mal, wenn die Zwerge ihren Wasserstrahl abfeuerten. Joe hielt sich an der Haltestange fest und schrie mit ihnen, während Gery die Kamera unentwegt auf die drei gerichtet hielt.
    Joe antwortete erst, als sie wieder ausstiegen. »Solange wir nach einem Sinn suchen, werden wir nie glücklich sein, verstehst du? Erst wenn dir alles egal ist, lebst du wirklich.«
    Und das sagt Gery jetzt auch zu Sonja: »Erst wenn dir alles egal ist, verstehst du?« Und Sonja nickt eifrig mit dem Kopf, denn sie will es ja spüren, das Jetzt, den Augenblick, nicht die ganze Vergangenheit, die sie mit sich herumschleppt, die sechs vergeudeten Jakobjahre, und schon gar nicht die Zukunft, an die sie ihr ganzes Erwachsenenleben gedacht hat. Das beginnt als junges Mädel, da träumst du vom Familienglück, von Mann und Kindern und zwei Hunden, von Haus, Garage, Gartenzaun und weiß Gott was noch, doch das Leben sieht ganz anders aus. Im richtigen Leben gehst du jeden Tag frühmorgens zur Arbeit und kommst spätabends wieder heim, verdienst Geld, damit du es danach für einen neuen Geschirrspülmaschinenschlauch ausgeben kannst, der nach spätestens einem Jahr wieder undicht wird, sowie für die vielen Versicherungen, die dann eventuell den neuen Parkettboden bezahlen, weil der alte durch das viele ausgetretene Wasser die abenteuerlichsten Wellen schlägt.
    Den geplatzten Schlauch und den gewellten Boden will Sonja ganz schnell vergessen, deswegen sitzt sie neben Gery in der Hochschaubahn. Sie rattern hinauf, gegen die Schwerkraft an, um ihr ganz oben zu begegnen, ein kurzer Stillstand nur, und schon geht es wieder hinunter, Sonja kreischt, hält die Haube fest, damit sie nicht in einer der geschmolzenen Schneelacken am Boden landet.
    Ratatatata, klettert der wackelige Waggon nach oben. Eisig weht der Wind Sonja ins Gesicht, also zieht sie den Jackenkragen höher und presst die Handinnenflächen gegen die Mütze. Und schon geht es wieder hinunter, huiiiii–ratatatata– huiiii–ratatatata, immer hinauf und hinunter, bis sie mit einem Ruck ganz unten stehen bleiben. Alles aussteigen bitte, hier endet das Hier und Jetzt, hier beginnt der Alltag, dunstig und grau hängt er über der bunten Praterstadt und verheddert sich zwischen Rap, Rock ’n’ Roll und Wiener Walzer.
    Warum lässt sich Sonja darauf ein, wo sie doch immer viel lieber in den Wienerwald als in den Prater gegangen ist? Was bricht da plötzlich aus ihr heraus? Vielleicht liegt es daran, dass sie nicht nach Hause will. Weder zu dem teuren Flachbildschirm von Bang & Olufsen noch zu der modernden Stereoanlage derselben Herstellerfirma. Nicht zu dem Sofa, auf dem niemand mehr neben ihr sitzt, nicht zu dem Bett, dessen zweite Hälfte unbenutzt bleibt. Ihre Wohnung ist ihr zur Bedrohung geworden, in ihrer Wohnung fällt sie ins Bodenlose. Das Fallen hat mit dem Denken zu tun. Wie die Liliputbahn durch den Prater, fährt das Denken durch Sonjas Kopf, immer im Kreis, rattert vor sich hin, kommt nie zum Stillstand. Nur wenn Sonja nicht allein ist, wenn die Stimmen der anderen das Rattern in ihrem Kopf überlagern, lässt es sich einigermaßen aushalten. Deswegen geht sie manchmal mit den Arbeitskollegen ins Café gleich neben dem Eingang des hohen Bürogebäudes, in dem sie arbeitet, und wartet darauf, dass die Zeit vergeht. Danach fährt sie zu Gery. Bei ihm erinnert sie nichts an ihr altes Leben. In seiner Wohnung liegen stapelweise verstaubte Bücher und Videokassetten am Boden, Aschenbecher quellen über und Punkmusik dröhnt aus den Boxen. Gerys Unordnung lässt sie die eigene Sucht nach Ordnung vergessen, seine ungestümen Berührungen verdrängen die Erinnerung an Jakobs sanftes Streicheln.
    Aber was kommt danach?
    Rasch drängt sie Gery ins Spiegelkabinett. Das Leben geht weiter, geht immer irgendwie irgendwo weiter, spiegelt sich in scheinbarer Unendlichkeit.

Teil 3
    Absorption

1  Seit Joes Tod treibt Gery durch die Tage wie in einem Schlauchboot. Arme und Beine gefesselt, im Mund ein verfilzter Wattebausch, da dringt kein Schrei durch, ist keine Bewegung möglich. Mit starrem Blick geht es geradeaus, immer der Strömung nach. So stark ist die Strömung in Wien Gott sei Dank nicht, deswegen fahren ja alle nach Südamerika zum Wildwasserpaddeln. Das Boot treibt dahin, verfängt sich in Wurzeln, hängt ein bisschen fest, treibt weiter. Montag, Dienstag, Mittwoch, Tag für Tag.
    Nur die alte Hedi Brunner hat einen

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