Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition)
Beziehungen, und in letzter Zeit steigert er sich auch mächtig ins Projekt hinein, aber Tamás ist es, dem die Sympathie des Professors gilt. Dabei hat er einen Intelligenzquotient wie ein Plastiksackerl, denkt Jakob, der sich schon lange wundert, wie Tamás durch die Diplomprüfung gekommen ist.
Der Professor räuspert sich, spazieren sei er gewesen, nun habe er sich eine Weile hingesetzt, um den Schlittschuhläufern zuzusehen, es sei ja so ein herrlicher Tag heute. »Nun denn«, räuspert er sich nochmals, »man sieht einander am Montag«, drückt dem jungen Doktoranden die Hand, nickt Marie zu und stapft Richtung Neuwaldegg, wo die Straßenbahn ihre Schleife dreht.
Jakob zieht Marie wieder aufs Eis, ein Liedchen auf den Lippen, und Marie lässt sich mitschleifen. Wie ein plumper Sack hängt sie an Jakob. Was tut man nicht alles aus Liebe! Jakob schleppt sich mit Marie ab, und Marie beißt tapfer die Zähne zusammen, das Rutschen ist ihre Sache nicht, aber man muss schließlich auch Kompromisse eingehen, und Schlittschuhlaufen ist ein solcher. Das hat nichts mit Winterwonderlandromantik zu tun, die Knöchel schmerzen vom vielen Umkippen und ihre Ohren frieren im eisigen Wind, aber Marie lächelt tapfer, ganz so, als wäre dies der schönste Tag ihres Lebens, dabei wartet sie nur auf die Dämmerung und den heißen Tee mit Rum, den sie unten in Neuwaldegg trinken wollen.
Jakob, der von Marie so gut wie gar nichts weiß, grinst von einem Ohr zum anderen und zieht froh gelaunt seine Schleifen. Auf der Eisfläche ist er der große Held, da gibt er Halt und Sicherheit, da kann man sich auf ihn verlassen.
Ja, jeder Mensch braucht ein wenig Zweisamkeit, und an den Tagen, an denen der Schnee schmilzt und graubraunen Matsch zurücklässt, an denen der kalte Jännerwind an den Hauben zerrt und die Finger steif werden lässt, braucht er sie sogar noch mehr als in den warmen Sommermonaten. Man sagt, die Liebe erblühet im Frühling, doch das stimmt nicht, der Winter ist es, der die Menschen einander in die Arme treibt. Wie ein riesiger Magnet lenkt er die einsamen Herzen zueinander, die Partnerbörsen florieren, und auch die Gewölbe der Innenstadtlokale bersten vor hungrigem Menschenfleisch auf der Suche nach Wärme.
Sonja muss nicht mehr suchen, Sonja ist fündig geworden. Die große Verliebtheit hat sich zwar nicht eingestellt, aber was macht das schon? Verträumt hat sie ihr ganzes junges Erwachsenenleben, fünfzehn Jahre lang Traum vom Märchenprinzen samt Bilderbuchfamilie, und wohin hat es sie geführt? Auf eine Hochschaubahn! Sonja lacht auf. Jetzt hat es sich ausgeträumt, jetzt fängt das Leben an, und das Leben ist hier und jetzt, denn morgen schon kann alles vorbei sein. Also versucht sie, das Hier und Jetzt auszulöffeln, wie man einen Teller heißer Hühnersuppe auslöffelt, doch so etwas gelingt nicht auf Anhieb, da müsste man schon ein Naturtalent sein. Aber wie alles andere kann man auch die Lebenslust erlernen, und in Gery hat Sonja ihren Lehrmeister gefunden.
»Das Achterbahnfahren ist eine Metapher fürs Leben«, schreit er ihr zu, als sie in der rosa Dizzy Mouse sitzen, »immer hinauf und hinunter, was für ein Gefühl im Bauch!«
An der Ersten Wiener Hochschaubahn sind sie vorbeigegangen, die ist für Kinder. Sonja braucht etwas anderes, glaubt Gery zu wissen, die muss man schon ganz hinaufkarren, damit sie das Leben spürt. Nur mit Joe hat man das Leben auch zwischen den Zwergen gespürt, aber Joe ist tot, und jetzt gibt es nur noch ihn, Gery, und der spürt sich schon lange nicht mehr.
»Weißt du«, sagte Joe einmal, »im Grunde genommen ist es doch scheißegal, ob du etwas erreichst im Leben oder nicht. Wir bevölkern die Erde, hinterlassen Wolkenkratzer, Büropaläste und Kathedralen für die Ewigkeit, manche schreiben Bücher oder komponieren Symphonien, aber sterben müssen am Ende doch alle. Und dann kräht kein Hahn mehr danach, was du aus deinem Leben gemacht hast, ob du geliebt hast oder nicht, ob du geliebt wurdest oder nicht, nicht einmal, ob du Kinder gezeugt hast, am Ende beißt du ins Gras, und das war’s dann.«
»Aber jetzt, jetzt macht es doch einen Unterschied«, antwortete Gery.
Sie saßen in der Ersten Wiener Hochschaubahn und fuhren an den Zwergen und künstlichen Gebirgen vorbei. Gery sah Joe durch den Sucher seiner Kamera an und zoomte sein Gesicht ganz nahe heran, bis er jeden Bartstoppel einzeln erkennen konnte. Nach der ersten Runde nahmen zwei Volksschulmädchen in
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