Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition)
wehmütig an voriges Jahr, als sie mit Traude Stierschneider
Stille Nacht, heilige Nacht
unterm Christbaum gesungen hat, eingehängt wie Schwiegermutter und Schwiegertochter, und wie schön es gewesen ist, zu Jakobs Familie zu gehören.
Im alten Bellaria Kino läuft der Abspann. Hedi lässt sich seufzend in den Wintermantel helfen und hängt sich bei Gery ein.
»Ich würde gern noch ein wenig spazieren gehen, wenn’s dich nicht stört«, sagt sie.
Also gehen sie zur Votivkirche, dann die Währinger Straße hinauf, eingehängt wie Oma und Enkelsohn. Vorbei an der Kirche, in der Hedis Töchter getauft wurden, vorbei an der Volksschule und dem Gymnasium.
»Darf ich noch hochkommen?«, fragt Gery. »Wir könnten das Radio einschalten und Weihnachtsmusik hören.«
Hedi drückt ihn am Arm. »Aber nur, wenn du wirklich nichts mehr vorhast.«
Zur selben Zeit sitzt Willibald Blasbichler bei seiner Schwester im Wohnzimmer und muss daran denken, wie gern er den kleinen Johannes gehabt hat. Neben ihm lässt Marianne ein paar Tränen auf das Silberbesteck tropfen.
Nicht, dass Joe je mit seiner Mutter und seinem Onkel gefeiert hätte, aber der Heilige Abend ist nun einmal eine rührselige Zeit, und wenn das eigene Kind stirbt, ist einem nicht nach Feiern zumute. Schon gar nicht, wenn es bei einem dummen Badeunfall ums Leben gekommen ist. Als solchen bezeichnet Marianne Schreyvogl den Tod ihres Sohnes nämlich, wenn sie danach gefragt wird. »Ein dummer Badeunfall.« Auch wenn es recht unglaubwürdig klingt, dass einer im Donaukanal Erfrischungsrunden dreht, nennen die Wiener den künstlichen Donauarm doch gerne ihren Dreckkanal.
15 Wie ein grobmaschiger Vorhang hängen dicke weiße Flocken zwischen den Häuserzeilen. Es ist die Zeit der Skifahrer und Snowboardasse, der Rodelgiganten und Schlittschuhkünstler, ganz Wien schlüpft in die Anoraks, sogar die Alte Donau fügt sich und friert zur leuchtenden Ferieninsel zu. An den Glühweinständen, dem letzten Überbleibsel der Wiener Christkindlmärkte, drängen sich die Menschenmassen um die dampfenden Kessel, hinter denen grün beschürzte Schamanen ihre Schöpfer schwingen und mit Zimt und Alkohol gegen die Kälte ankämpfen. Solange der Schnee weiß, die Flüsse gefroren und die Glühweintöpfe voll sind, ist das Wiener Gemüt zufrieden. Winter Wonderland bringt die Augen der Eingemummten zum Leuchten und die Kinderherzen zum Lachen, alles wälzt sich im gefrorenem Nass, formt es zu Kugeln und bewirft einander damit, in den Praterauen und am Gallitzinberg werden die Rodeln nachgezogen, und auf der Alten Donau gleiten die Schlittschuhläufer unermüdlich übers Eis.
Auch am Hanslteich im Wienerwald sitzt einer und sieht den Kleinen beim Schlittschuhlaufen zu.
So groß ist Willibald Blasbichlers Freude über die tolpatschigen Kinder in ihren viel zu großen Schalenschlittschuhen, dass er den Sohn vom Stierschneider nicht sofort sieht. Willis Hand reibt am Reißverschluss der Hose, gut versteckt unter dem dicken Lodenmantel, auf seinem Gesicht breitet sich ein behagliches Lächeln aus. Während er vor sich hin starrt, fällt sein Blick plötzlich auf Jakob, auf die Frau, die an seinem Arm hängt. Liebesgeflüster, denkt sich Willibald Blasbichler verärgert, der sollte lieber im Labor sitzen und seine Dissertation zu Ende bringen, damit ich wieder meine Ruh hab. Was muss ich diesem Stierschneidersohn auch ständig über den Weg laufen, wie wenn mir sein Anblick im Institut und im Labor nicht reichen würde.
»Siehst du den Mann dort drüben?«, flüstert Marie in Jakobs Ohr. »Den kenn ich, der war auf Joes Beerdigung.« Jakob folgt dem Blick der Freundin. »Ja, da schau her, der Blasbichler!«, ruft er, und schon schlittert er übers Eis.
»Grüß Sie Gott, Herr Professor, auch am Winterluftschnuppern?«
Schnell zieht Willi die Hand hervor und wickelt den Mantel fester um den Leib, doch Marie hat es längst bemerkt. Dass sich die Männer ständig zwischen den Beinen herumfummeln müssen, denkt sie, immer müssen die sich in aller Öffentlichkeit ihren Sack richten, und wir sollen dann auch noch so tun, als hätten wir nichts gesehen, und ihnen die Hand zum Gruß hinhalten. Sie nickt kurz mit dem Kopf, die Fäustlinge fest in der Daunenjacke vergraben, während Jakob sich mächtig ins Zeug legt, will er doch mit nach Helsinki, und noch ist keine hundertprozentige Entscheidung gefallen, wer den alten Blasbichler zur Konferenz begleiten darf. Gut, Jakob hat die besseren
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