Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition)
gegen Jakob entscheiden wird. Trotzdem wird sie gleich den Zigarettenstummel ausdämpfen, hineingehen und ihre Pizzahälfte mit einem Kuss entgegennehmen. Sie wird lachen, wie sie es immer tut, und aufmerksam zuhören, wenn er vom Teleportationsprojekt erzählt, von zukünftiger Rechenleistung, von Qbits und Quantenkryptographie.
Hinter dem Balkongeländer fallen dicke Tropfen auf den Asphalt, platschen und plätschern, springen aufs Eisen und vollführen Saltos. Marie lehnt sich mit herausgestreckter Zunge über die Brüstung. Die Tropfen fallen ihr auf die Wangen, nur die Zunge bleibt trocken.
Ich möchte mich im Regen drehen, einfach hinunterlaufen, die Arme weit vom Körper, auf den Zehenspitzen tanzen, die Nase ganz nach oben. Einfach hinunter, hinaus, wie damals, denkt sie, als alles noch neu war, neu und frisch und interessant, als wir noch durch den Regen liefen, als wir noch nichts voneinander wussten, und uns alles zu sagen hatten.
Und wieder muss sie an Joe denken, Joe, von dem sie bis zum Schluss nicht gewusst hat, wer er eigentlich war, Joe mit seinen Märchen, die er ihr ins Haar erzählte, unter ihnen die ratternden Züge, über ihnen der lila Himmel. Joe, bei dem man nie wusste, ob er morgen noch hier sein würde oder schon ganz woanders.
Jakob rennt nicht mit albernen Puppen durch die Stadt und stellt sich nicht mit alten Weingläsern, die er am Flohmarkt gesammelt hat, auf eine Brücke. Jakob weiß, wo es langgeht im Leben, auf ihn kann sie sich verlassen, ganz anders als auf Joe mit seiner Wurstelpratermentalität. Deswegen hat Marie ihre Neunzig-Zemtimeter-Matratze gegen ein großes Doppelbett eingetauscht, als Start ins gemeinsame Leben. Und es ist ja auch viel gemütlicher so, ganz anders als damals, in Joes engem Bett, in dem ihre verschwitzten Körper aneinandergeklebt sind, sie keine Möglichkeit gehabt hat, ihre Haut ein paar Sekunden für sich zu haben.
Marie stößt die Tür auf und winkt dem Mann am Fenster in Gedanken zu. Der Mann schnippt die Zigarette in den Hof und schließt die Fensterflügel. Im Wohnzimmer riecht es nach Salami und Oregano, nach knusprig gebackenem Germteig und Coca-Cola.
»Dass du vor dem Essen rauchen kannst«, sagt Jakob.
Später wird er seinen Arm um sie legen und augenblicklich einschlafen. Im Halbschlaf wird Marie von einem Wolf träumen, der sie in die Nacht hinauszerrt, hinauf zum Donaukanal und weiter bis nach Nussdorf, wo er sie abschlecken und danach liegen lassen wird. Sie wird sich nicht rühren, wird zwischen den Weinreben liegen bleiben, ganz allein, und hinunter auf das nächtliche Wien schauen, und irgendwo dort unten wird Jakob unter ihrer weichen Steppdecke schlafen und sie nicht vermissen. Bei Sonnenaufgang wird sie in den 39A steigen und nach Hause fahren. Sie wird Jakobs Arm um ihre Brust wickeln, um sich an ihm zu wärmen, und wenn er aufwacht und sie küsst, wird ihm nicht auffallen, dass getrockneter Lehm zwischen ihren Zehen klebt und ihre Haare mit Grashalmen bespickt sind.
13 An dem Tag, an dem Hedwig Zeinninger in den Bus stieg, hing der Frühnebel über den braunen Stoppelfeldern und die Raben hatten es sich gemütlich eingerichtet. Nicht umsonst nennt man den November den Monat der Selbstmörder. So malerisch sich das Weinviertel für die Radtouristen zwischen März und Juni gestalten mag, kaum dass der Mähdrescher über die hügeligen Felder gerollt ist, ist die Landschaft auch schon wieder braun und kahl.
Hedi fuhr in der Woche, nachdem die letzten Trauben geerntet worden waren. Der Vater brachte sie zum Kirchplatz, wo um sieben Uhr dreißig ein Bus nach Wien fuhr. Die Verabschiedung bestand aus einem kurzen Schulterklopfen, danach drückte er der Tochter die Tasche in die Hand.
»Meld dich, wenn du was brauchst.«
Als der Fahrer den Motor anließ, konnte Hedi die Erleichterung in seinem Gesicht sehen. Sie winkte ihm ein letztes Mal, der Vater nickte und warf die Zigarettenkippe auf den Boden. Dann trat er mit der Schuhspitze darauf, drehte sich um und ging.
Auf dem Tisch liegt der MP3-Player. Gery kontrolliert die Anzeige und lehnt sich wieder in die Blumenkissen. Hedi hält kurz inne. Dann muss sie plötzlich lachen.
»Im Bus habe ich dann Inge kennengelernt. Inge Neuberger aus Mistelbach.« Hedi streicht sich eine weiße Haarlocke aus der Stirn. »Inge hat damals schon seit einem halben Jahr in Wien gelebt, weil sie dort ihre Lehre zur Drogistin gemacht hat. Gewohnt hat sie in einer kleinen Wohnung, die ihr die
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