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Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition)

Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition)

Titel: Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margarita Kinstner
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Tante billig vermietet hat. Die Wohnung hat ihrem Cousin gehört, der vierundvierzig in Russland gefallen ist. Und weißt du, was Inge plötzlich gesagt hat, nachdem wir eine Stunde lang nebeneinander gesessen sind? Zieh doch einfach zu mir! Ich wohn sowieso nicht gern allein, und die Miete ist zu zweit noch billiger. Also bin ich gleich nach der Ankunft mit ihr mitgegangen.«
    Hedi stellt die Teetasse ab. Fängt mit einem Taschentuch, das sie aus dem Pulloverärmel zaubert, die Tränen in den Augenwinkeln auf.
    »Das war wie ein Wink des Himmels. Ich hab ja nichts mitgehabt, nur die zwei Silberbecher, die mir die Mutter in die Tasche gesteckt hat. Die haben wir gegen ein paar Kilo Kartoffeln und ein kleines Stück Geselchtes bekommen. Damit gehst zum Schwarzmarkt, falls dir die Milch ausgeht, hat die Mutter gesagt. Der Vater hat davon nichts wissen dürfen.«
    Gery sagt kein Wort. Wüsste auch gar nicht, was er sagen sollte. Seine Antwort wird in Form von Bildern kommen. Zu Hause wird er sich an den Computer setzen, gleich heute noch, und Hedis Erzählungen in Abschnitte gliedern. Jeden Abschnitt auf eine eigene Spur legen. Am Schluss wird er dann wieder alles neu zusammenfügen.
    »Das war schon hart damals, wie ich weg hab müssen von daheim. Und noch dazu in die Stadt, wo man sich um jedes Stück Brot hat anstellen müssen.«
    Gery schließt die Augen. Sieht die junge Hedi vor sich. Den Bus, den rauchenden Vater, Inge aus Mistelbach.
    »Die Mutter wollte nicht, dass ich geh. Willst es dir nicht doch noch überlegen?, hat sie immer wieder gesagt. Wir schaffen das schon irgendwie mit dem Kind.«
    Hedi seufzt. Greift nach der Kaffeetasse und nimmt einen Schluck.
    »Vielleicht hat sie recht gehabt. Vielleicht wär alles gar nicht so schlimm gewesen. Die Mama hätte sich mit mir um den Buben kümmern können. Und ich wär nie auf die Idee gekommen, dass der Wassily etwas Besseres verdient hat.«
    Tränen rinnen ihr über die Wangen. Gery würde gerne seine Hand nach ihr ausstrecken und ihr über die Adern am Handrücken streichen. Dennoch bleibt er starr sitzen, festgeklebt auf das geblümte Sofa.
    »Ich wollt den Eltern die Schand nicht antun. Es hat gereicht, dass die anderen noch immer hinter vorgehaltener Hand über den Ferdl geschimpft haben. Vaterlandsverräter haben sie ihn genannt. Wie wenn es nicht gereicht hätte, dass man ihn umgebracht hat. Die Mutter hätte das nicht noch einmal überstanden. Wo es doch so schon genug Gerede gegeben hat über den Ilja und mich.«
    Hedi wischt sich die Tränen von den Wangen. Beginnt dann plötzlich zu lachen. »Das hast jetzt von deinem Filmprojekt. Eine alte, sentimentale Vettel!«
    Jetzt legt er ihr doch die Hand auf den Unterarm. Sitzt vornübergebeugt auf dem Sofa, kippt fast herunter, so strecken muss er sich, um Hedis Arm berühren zu können.
    »Die Inge«, sagt Hedi, »ist mir zur besten Freundin geworden. Ohne sie hätte ich das alles nicht geschafft. Sie hat mir Sachen genäht. Einen Wintermantel aus gestohlenen Heeresdecken. Und aus den Hemden ihres Cousins hat sie mir eine Bluse geschneidert, die über meinen Bauch gepasst hat. Sie konnte das wirklich gut, richtig chic hat am Schluss alles ausgesehen. Ich bin neben ihr gesessen und hab ihr beim Nähen zugeschaut. Erzähl mir was, hat sie dann immer gesagt. Meist hab ich ihr vom Hof meiner Eltern erzählt. Vom Fastenhauen oder vom dicken Pepi, der einen Stand auf mich gehabt hat. Und wie froh ich gewesen bin, als er hat einrücken müssen, im zweiundvierziger Jahr.«
    Auf dem Dach trippeln die Tauben, jetzt, wo es ganz leise ist, kann Gery sie hören. Er beobachtet Hedi, wie sie aus dem Fenster sieht. Aus dem Fenster in die Vergangenheit, denkt er. Was sieht sie? Inge? Die Nähmaschine? Oder doch nur das Stück hellgrauen Himmel, das man durch den Vorhang schimmern sehen kann, wenn man in die gleiche Richtung wie sie schaut.
    Hedi senkt den Blick und stellt die Tasse, die sie die ganze Zeit in der Hand gehalten hat, auf den kleinen Tisch. Später wird Gery das Klappern auf der Aufnahme hören.
    »Vom Ilja hab ich der Inge erst erzählt, als ich schon im achten Monat war. Der Kindsvater ist ein Russe, hab ich gesagt. Die Inge ist dagesessen, ganz still, den Fuß über dem Tritt, bestimmt eine Minute lang. Und dann hat sie weitergenäht. Ich hab auf eine Antwort gewartet, aber sie hat geschwiegen. Nur ihr Treten ist mir aggressiver vorgekommen. Als sie endlich etwas gesagt hat, hat die Maschine noch immer

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