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Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition)

Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition)

Titel: Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margarita Kinstner
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gehe (»Was macht das Projekt?« – der Vater, »Picknickst du mit Marie? Hast du auch genug Zeit für sie?« – die Mutter), hat er sich von seinen Eltern verabschiedet und den Motor des Opels gestartet. Jetzt stehen auf dem Rücksitz ein Korb sowie eine Papiertragetasche, deren Inhalt Jakob noch umschichten muss, bevor er bei Marie läutet.
    Kramer trägt den Karton in die Küche. Als sie wieder auf der Bank Platz genommen haben, nimmt er den Deckel herunter. Obenauf liegt ein Kuvert, darunter Schwarzweißfotografien. Gery greift nach den Zigaretten und zündet sich eine an. Kramer hält ihm das Kuvert hin. »Eine Haarlocke«, sagt er.
    Die Locke ist aschblond, zusammengehalten von einer rosa Schleife. Ob sie von Hedi sei, fragt Gery. Kramer ist sich nicht sicher. »Könnte sein«, sagt er.
    Die Fotos zeigen die Familie. Die Mutter am Sessel, die kleine Hedi auf ihrem Schoß, der Vater dahinter. Alle drei blicken ernst in die Kamera. Auf einem anderen Foto steht Hedi allein neben einem Stuhl. Auf der Sitzfläche des Stuhls ein Teddybär mit Knopfaugen. Die weiße Bluse und die weißen Stutzen unter dem Faltenröckchen zeigen, dass die Eltern die kleine Hedi extra hübsch angezogen haben. Andere Fotos zeigen Arbeiter mit Lendenschurz, müde lächeln sie in die Kamera. Der Vater und die Mutter stehen in der Mitte, das Kind davor. Hedi ist vielleicht sechs, sieben Jahre alt.
    Gery kramt in der Schachtel. Ein Rosenkranz, eine Kette mit einem Marienbild. Weitere Fotos. Die meisten dokumentieren die Arbeit am Hof. Einmal hängt eine ausgeschlachtete Sau im Bild, ein andermal sieht man die Arbeiter beim Dreschen. Als hätte man zum Beweis der Mühe extra den Fotografen ins Haus geholt.
    Hochzeiten, Dorffeste, Erntearbeiten. Hedis Taufe. Die heranreifende Hedi, in weißer Bluse und Faltenrock, als wäre das Gewand mitgewachsen. Nur die Stutzen fehlen. Frech lächelt sie in die Kamera. Auf einem anderen Foto Soldaten. Gery erkennt die russischen Uniformen. Fragt sich, wer von ihnen wohl Ilja ist.
    Auf der Seite des Kartons liegt eine Taufkerze. Das Wachs ist klebrig und verstaubt. Er wird die Schachtel mit nach Wien nehmen. Kramer wird nichts dagegen haben. Kann nichts dagegen haben, denn die Schachtel gehört Hedi.
    Den Rest des Nachmittags sitzen sie in der Sonne. Neben dem Hintausweg, am oberen Ende des Grundstücks, stehen ein alter verrosteter Tisch sowie eine morsche Holzbank. Ein Apfelbaum streckt seine knorrigen Äste von sich, als würde er sagen: Fragt mich, ich bin der Einzige, der sich noch an damals erinnern kann.
    Die Sonne legt sich auf ihre Gesichter, zaubert Nasen und Wangen rot. Kramer erzählt von den Eltern, die Anfang der Achtziger in das Haus gezogen sind.
    »Für ein Kind gibt es keinen besseren Spielplatz als die Natur«, sagt er.
    Gery erinnert sich an das eigene Aufwachsen, an die Einsamkeit und das Schuften auf dem Feld, an den betrunkenen Vater und die Mutter mit ihrem Rheuma.
    »Später freilich«, lacht Kramer, »als ich ein Teenager war, da ist es mir hier langweilig geworden.«
    Ob er das Gewächshaus noch als Atelier benütze, fragt Gery.
    »So was spricht sich herum, was? Wer hat es dir erzählt? Hedi?« Kramer greift in seine Hosentasche, holt ein löchriges Stofftaschentuch heraus, schnäuzt sich. »Die meisten Leute hier denken, ich hätte eine Macke. Kunst ist nur Kunst, wenn du damit ordentlich Kohle machst. Na ja. Mir macht es Spaß, es ist ein netter Ausgleich zum Arbeitsleben. Besser, als sich vor den Fernseher zu setzen.«
    Er führt Gery ins Gewächshaus. Die Skulpturen sind allesamt aus Metallblechen geschnitten. Riesige Frauen- und Männerkörper, zusammengesetzt aus geometrischen Formen. Der Boden ist mit Eisenstaub bedeckt. In einer Ecke liegt eine Stichsäge, auf der gegenüberliegenden Seite stehen Lackdosen in einem Regal. Gery hebt die Kamera, hält sie abwechselnd auf Kramer, die Skulpturen und das Werkzeug.
    »Ich male nur noch selten. Jedes Material nützt sich mit der Zeit ab. Ich hab’s schon mit Speckstein versucht, danach mit Holz. Jetzt arbeite ich mit Aluminium.« Er streicht über eine der Figuren. Es scheint ihn nicht zu stören, von Gery gefilmt zu werden. Bis auf Joe hat Gery noch niemanden erlebt, dessen Körperhaltung sich nicht verändert, sobald er das Kameraauge auf ihn wirft.
    »Weiter unten am Weg, Richtung Dorf, steht meine Venus«, sagt Kramer. »Und in Mistelbach haben sie die Verliebten aufgestellt, im Park vor dem Rathaus. Ich kenne den Sohn vom

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