Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition)
brechen, so ist es doch immer mit den jungen Burschen.
Palicini lässt die Meierei links liegen. Ein leichter Nieselregen sprüht ihm auf die Schultern. Er denkt an das kleine Kaffeezimmer im Waggon 21. Zwei Proberunden ist er im Romantikwaggon des Riesenrads gesessen, das hat er sich als Belohnung vom Blasbichler-Geld gegönnt. Eine ganze Stunde lang ist er über der bunten Praterstadt geschwebt, hat zwei Espressi getrunken und einen Topfenstrudel gegessen und vor sich hin geträumt. Eine Stunde ist genau richtig, hat er dann gedacht und für den fünfzehnten Juli zwei Runden reserviert. Um die Kaisermelange wird er sich allerdings selbst kümmern müssen, denn von Kaffee haben die dort keine Ahnung. Wenn man schon im ehemaligen kaiserlichen Jagdrevier ist, dann muss man auch trinken wie ein Kaiser. Ob Joseph der Zweite seinen Kaffee wirklich mit Eigelb und Cognac getrunken hat? Vielleicht, denkt Palicini, hat er aber auch zu viel Cognac getrunken und den Prater deswegen seinen Wienern geschenkt.
Mit einem Pfeifen auf den Lippen schreitet er voran. An der Titelmelodie des
Dritten Mannes
, die seinen Lippen mit einem fröhlichen Pfeifton entfährt, erkennt er, dass er mittlerweile einen Pratertick hat. Der Kurti hat schon recht, denkt er. Wenn ich so weitermach, lande ich noch im Irrenhaus!!
3 Kramers Körper steckt in ausgewaschenen Jeans und einem olivgrünen T-Shirt mit kleinen Löchern, Kratzspuren und Tierhaaren, als hätte sich gerade eben ein fetter Kater an ihn gehängt. Hinter den Brillengläsern funkeln haselnussbraune Augen. Er hält Gery die Hand zum Gruß hin, sein Händedruck ist weich, die Handinnenflächen feucht.
In der Küche riecht es feucht und modrig. In der Ecke ein alter Sparherd, wie er auch noch immer bei Gerys Eltern steht. Darauf ein Topf, in dem ein roter Eintopf Blasen schlägt. Vor dem Fenster ein Tisch und eine Sitzbank, an der Wand ein Bild, dessen kräftiges Orange nicht zur bäuerlichen Einrichtung passt.
»Ich habe Chili gemacht, das Einzige, was ich wirklich kann.«
Beim Essen erzählt Kramer, dass es hier nicht mehr so sei wie früher, dass es kaum noch Bauern gebe, dass die meisten eine Arbeit in der Stadt hätten, entweder in Mistelbach oder in Wien.
»Hier ist es schön, ich möchte nicht mehr in Wien leben«, sagt er.
Nach dem Essen führt er Gery ins hintere Zimmer. Gery erkennt den verstaubten Hometrainer, den er schon bei seinem letzten Besuch gesehen hat, als er seine Handkanten ans Fenster gelegt und durch die Scheibe gespäht hat.
»Alles altes Gerümpel«, sagt Kramer. »Ich sollte endlich einmal ausmisten.«
Im Raum riecht es nach feuchter Bettwäsche und staubigen Vorhängen. An der Wand steht ein Bett, neben der Tür stapeln sich alte Zeitungen. Dazwischen ein großer Kasten, zusammengezimmert aus billigem Sperrholz und ein paar Eisenklammern. Die Tür klemmt, Kramer muss sie ein wenig anheben. Der Kasten wackelt und ächzt. Unter einem Stoß ausgebleichter Bettwäsche und einer Lodenjacke liegen Schachteln aus Karton mit aufgemalten Blumen und Weinranken. Bernd kramt die unterste hervor und legt sie aufs Bett.
»Das ist sie«, sagt er und hebt den Deckel hoch. »Willkommen in Hedi Zeinningers Welt!«
Exakt zur selben Zeit biegt ein dunkelgrauer Opel Astra in die Castellezgasse. Würde man durch das Hinterfenster schauen – was hier keiner tut –, würde man einen Korb sehen sowie zwei karierte Decken. Die Decken sind eine Erinnerung an ein früheres Leben, bunte Karos und verfilzte Fransen. Sie lagen in demselben Kasten, in dem Jakobs Maturaanzug hängt. Sonst hängt dort nicht mehr viel, deswegen gibt es Platz. Jakobs Kinderzimmer ist zum Abstellraum geworden. Hier herein schiebt Traude ihren Staubsauger, hier herein stellt sie den Wäscheständer, hier klappt sie den Bügeltisch auf. In Jakobs Kinderzimmer gibt es ein kleines Radio und viele Erinnerungen. Von der Decke hängt ein Flugzeugmodell, an der Wand, über dem Bett, auf dem Traude die gebügelte Wäsche auflegt, klebt ein Poster von Einstein, und im Eck des Bettes sitzt ein alter Teddybär mit trüb gewaschenen Glasaugen.
Am Vormittag hat Jakob die zwei Decken aus dem Schrank geholt und sich vom Vater den Schlüssel für den Opel geben lassen. Die Mutter hat ihm den Korb in die Hand gedrückt. »Zu einem ordentlichen Picknick gehört ein Korb«, dabei haben ihre Augen geglänzt und Jakob hat sich gedacht, jetzt hofft sie auf ein Enkelkind. Nach einer kurzen Berichterstattung, wie es ihm
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