Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition)
gestanden, hab gerufen, Sturm geläutet und geklopft. Dann bin ich zur Hausmeisterin, aber die konnte auch nichts machen. Also hab ich die Polizei gerufen. Was hätte ich denn sonst tun sollen? Wo ich doch geglaubt hab, die Mama liegt bewusstlos am Boden! Wer kann denn wissen, dass sie plötzlich die Tür aufmacht? Grüß Gott, hat sie gesagt. Und: Traude, was willst du denn hier? Als würde ihr Telefon nicht schon den ganzen Tag klingeln, als würde ich nicht seit einer halben Stunde an ihre Tür hämmern.«
»Vielleicht hat sie geschlafen«, sagt Anna. Sie steigt von einem auf den anderen Fuß. Ihre Zehen sind kalt. Mit dem linken Bein fischt sie nach der Fernsehdecke. Wickelt sich ein. Bitte, lieber Gott, lass mich mit meiner Mutter in Ruh, denkt sie.
»Sie hat nicht geschlafen. Sie war komplett verwirrt. Dass sie ihre Ruh haben will, hat sie denen von der Polizei gesagt.«
Traude weint in den Hörer.
»Und was soll ich jetzt tun?«, fragt Anna und denkt: Vielleicht geht es der Mutter ja wie mir. Was ist denn wirklich so falsch daran, seine Ruhe haben zu wollen?
»Weißt du was?«, presst Traude hervor. »Vergiss es einfach. Ich hab gedacht, ich kann mit dir darüber reden, aber du hast dich ja nie für einen von uns interessiert.«
Anna hört das Tüten in der Leitung. Das hat Traude immer gut können. Mitten im Gespräch auflegen. Und immer so, dass der andere mit einem schlechten Gewissen zurückbleibt. Diesmal hat sie es auch geschafft. Anna hat die Finger schon auf den Tasten, doch dann überlegt sie es sich doch anders. Was sollte sie ihrer Schwester schon sagen? Norbert geht die Geschichte mit unserer Mutter auch schon auf die Nerven, denkt sie. Und nicht nur die Mutter, auch Traude selbst. »Wenn ich nicht schon so alt wär, würd ich ausziehen«, hat er Anna erst gestern wieder gestanden.
Sie wird ihm sagen müssen, dass es so nicht mehr weitergehen kann. Dass sie das nicht länger aushält, diese ewige Lügerei, jetzt, wo Traude wieder öfter anruft.
Sie wickelt sich die Decke um den Körper und setzt sich aufs Sofa. Der Wein, der seit zwei Tagen auf dem Couchtisch steht, schmeckt sauer. Sie steht auf und schüttet den Inhalt der Flasche in den Ausguss. Sie wird Norbert sagen, dass sie einander nicht mehr treffen können. Er kommt ja sowieso nur zum Vögeln zu ihr. Die eine für den Sex, die andere fürs Essen. Norbert macht mit uns doch, was er will, denkt Anna. Höchstwahrscheinlich geh ich ihm genauso auf die Nerven wie Traude. Oder schlimmer noch: Ich bin ihm einfach egal. Die halbe Stunde, die wir miteinander verbringen, reicht für mehr doch gar nicht aus.
5 Drei Nachmittage ist Gery vor dem Computer gesessen. Hat Filmmaterial geschnitten und Tonspuren angelegt. Jetzt sitzt er wieder auf Hedis Sofa.
»Bald wirst du dein Leben im Kino sehen«, sagt er. Auf seiner Oberlippe klebt Kaffeeschaum. »Ein Bekannter von mir sagt, dass er es vielleicht arrangieren kann, dass der Film im Schikaneder vorgeführt wird.«
»Was ist denn das Schikaneder?«, fragt Hedi.
»Ein kleines, altes Kino, in dem ein unbedeutender Filmemacher wie ich auch seine Chance auf Publikum bekommt.«
»Na so was«, sagt Hedi, »dann komm ich also ins Kino.«
Von draußen weht süßer Fliederduft herein. Hedi steht auf und schließt das Fenster.
»Gestern war die Polizei bei mir«, sagt sie, als sie sich wieder setzt.
»Ist etwas passiert?« In Gerys Blick erkennt Hedi einen erschrockenen Ausdruck. Wie er mich ansieht, denkt sie, der macht sich wirklich Sorgen um mich.
»Die Traude hat angerufen. Den ganzen Tag lang hat das Telefon geläutet, aber ich bin nicht rangegangen. Am Abend ist sie dann gekommen und hat gegen meine Tür gehämmert. Aber ich hab nicht aufgemacht.«
»Wieso? War dir schlecht? Bist du nicht aufgekommen?«
»Nein, es ging mir gut. Ich hatte bloß keine Lust, meine Tochter zu sehen.«
Hedi muss daran denken, wie sie auf dem Schaukelstuhl saß, die Luft anhielt und das Läuten des Telefons wie ein Gewitter vorüberziehen ließ. Gegen sechs Uhr abends klingelte es dann an ihrer Tür. Hedi hörte die Tochter rufen und gegen die Milchglasscheibe hämmern. Heute weiß sie selbst nicht mehr, warum sie nicht aufgemacht hat.
Und dann stand auf einmal die Polizei auf der Türmatte. Hedi hörte, wie sie Traude fragten, ob sie die Tür aufbrechen sollten. Es war nicht schwer, die Verwirrte zu spielen. »Was will denn die Polizei von mir?«, fragte Hedi, als sie die Tür öffnete. Traude stand wimmernd
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