Mitternachtserwachen
Dummheit schützte nicht vor Strafe. Bevor Lior sein Wurfmesser werfen konnte, tat ihm Kendrick den Gefallen. Der tödliche Treffer traf genau das Herz.
Lior zog den Behälter mit dem Bannpulver aus Rovens Satteltasche und machte sich an die Arbeit. Von Marc blieb nicht einmal ein Haar zurück. Lior kontrollierte, ob das Mädchen noch bewusstlos war, und zufrieden stellte er fest, dass ihr Puls regelmäßig schlug. Er würde ihr die Erinnerungen nehmen. Dieses Erlebnis sollte sie nicht ihr restliches Leben verfolgen. Das menschliche Dasein war viel zu kurz, um sich damit zu belasten. Wenigstens sie hatten er und Kendrick vor einem schlimmen Schicksal bewahrt.
Kendrick trat auf ihn zu. „Exodus und Nosferat erwarten uns auf der Isle of Lugus.“ Er verzog die Mundwinkel. „Nosferat weiß, wer die Marbhadair ist, die du gespürt hast.“
„Was? Und wieso reagiert er erst jetzt?“
„Nicht nur dich hat es kalt erwischt. Nosferat war mitten in einer Sitzung mit den Vampiren der Dunkelheit und hat gekotzt wie noch nie in seinem Leben. Dàn müsste jeden Moment eintreffen. Er wird sich um die Kleine kümmern.“
Lior schloss die Lider, und das Gesicht seiner Mutter stand ihm klar vor Augen, so deutlich wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Er würde die Schlampe leiden lassen. Wen immer er auch gespürt hatte, sie würde keinen einfachen Tod finden. Glühender Hass raste gleich eines Sturms durch seinen Körper, setzte sich in seinem Herzen fest, bis lediglich Eiseskälte verblieb.
Er hoffte nur, dass es wirklich nur die eine Präsenz war, die er wahrgenommen hatte, und nicht, dass eine Jägerin die Vorhut einer Armee bildete. Er drehte sich zur Seite, und sein Mittagessen landete auf der Erde. Kendrick reichte ihm wortlos ein Taschentuch, danach ein Kaugummi. Morven rüstete Kendrick aus, mit allem, was erforderlich sein könnte. Lior wünschte sich in diesem Moment, er könnte sich in die warmen Arme einer Gefährtin flüchten, sie lieben, bis er innerlich auftaute, fähig, der Marbhadair mit Bedacht gegenüberzutreten. Blinder Zorn machte verletzlich und könnte ihn das Leben kosten.
Wenig später trafen Dàn und zu seinem Erstaunen Taran ein. Der Söldner hatte sich in den letzten Wochen sehr verändert. Der grausame Folterer war noch schweigsamer geworden. Jede freie Sekunde verweilte er an der Seite von Betty, Morvens Freundin, die im Koma lag, seitdem eine Meduris sich ihrer bemächtigt hatte, um an Morven heranzukommen. Als Nosferat vorgeschlagen hatte, Betty von ihrem Leiden zu erlösen, wäre Taran Nosferat beinahe an die Gurgel gegangen. Taran nickte ihnen nicht einmal zu, hob das Mädchen auf und legte sie vorsichtig auf die Rücksitzbank des Geländewagens. Er und Dàn würden dafür sorgen, dass sie am nächsten Morgen sauber und entspannt in ihrem Bett aufwachte, mit den Erinnerungen an einen schönen Abend.
„Lauf nach Hause, Roven“, sagte Kendrick, klapste dem Tier auf den Rumpf, und das Shire Horse verschwand in der Nacht.
Dàn setzte sie an der Küste ab. Sie nickten Roger zu, der das Boot lenkte, und schweigend stiegen Lior und Kendrick auf das wartende Speedboat, das sie zur Isle of Lugus brachte. Die Insel war ihr Hauptquartier, auf keiner Karte zu finden und wurde durch starke Schutzglyphen abgeschirmt. Lior hielt sein Gesicht in die kalte Gischt, es half ihm ein wenig, zu Verstand zu kommen. Hass war ein schlechter Ratgeber. Die zehn Minuten kamen ihm wie eine Ewigkeit vor. Kendrick saß neben ihm, und Lior war ihm dankbar dafür. Er konnte sich blind auf den Söldner verlassen, und er war wie ein Bruder für ihn.
Nosferat und Exodus warteten am Steg auf sie. Beide standen still wie Statuen, doch in ihren Augen entdeckte Lior seine eigene Bestürzung. Nosferat wusste zwar viel, aber anscheinend diesmal nicht alles. Er hatte Lior einmal erzählt, dass er oft nur Ahnungen verspürte, Gedankenfetzen erhielt, die ihn auf die richtige Fährte führten. Nosferat war der beste Taktiker, den Lior kannte. Sogar mit der kleinsten Information vermochte er das Puzzle zusammenzusetzen, und sei es noch so kompliziert.
Auch mit starken Partnern an seiner Seite bemerkte Lior irritiert das Zittern seiner Finger. Nosferat gewährte ihm einen dieser Blicke, die nicht auf der Oberfläche verblieben, sondern tiefer drangen, bis er alles erfasste, worauf er es abgesehen hatte. Selbst nach all diesen Jahrhunderten verfehlte Nosferat nicht seine Wirkung auf ihn.
„Junge, kann ich auf dich
Weitere Kostenlose Bücher