Mitternachtsfalke - Auf Den Schwingen Der Liebe
stellte sie den Teller und die Milch auf ein Tischchen neben dem Sofa. Wie jeden Tag machte es sich Robby im Schneidersitz darauf gemütlich und angelte sich den ersten Keks. In einem Stück wanderte das süße Gebäck in seinen Mund. Als er nun auch noch genüsslich seine Augen schloss, konnte sich Julia das Lachen nicht verkneifen.
„Oh, Robby, ich denke, ich werde Miss Lane bitten, dir noch einige Kekse für den Nachhauseweg einzupacken. Du scheinst mir heute etwas entkräftet. Was hältst du davon?“
Begeistert nickte der Junge, ehe er sich die Krümel mit einem großen Schluck Milch hinunterspülte.
Glücklich über Robbys Freude, setzte sich Julia ihrem kleinen Freund gegenüber. Nur zu deutlich konnte sie sich an den Jungen erinnern, der Robby noch vor gut einem Jahr gewesen war: ein verängstigter, halb verhungerter Siebenjähriger, der vor Dreck gestarrt hatte.
Damals hatte er in seiner Not versucht, Julia ihre Geldbörse zu stehlen. Panisch wie ein wildes Tier hatte er um sich geschlagen, als sein Vorhaben fehlgeschlagen war und sie ihn stattdessen am Kragen gepackt hatte. Wäre Julia in diesem Moment allein gewesen, wäre er bestimmt entkommen, aber mit der Hilfe von Fanny Boyle war es ihr gelungen, den wilden Jungen zu überwältigen. Gemeinsam hatten sie ihn daraufhin in die Küche des Herrenhauses gebracht, um zu erfahren, wer der kleine Dieb eigentlich war. Miss Lane hatte nicht schlecht gestaunt, als sie ihre Küche betrat und dort ihre Herrin vorfand, die zusammen mit Fanny erfolglos versuchte, das Kind daran zu hindern, alles kurz und klein zu schlagen.
Zum Glück hatte die kolossale Köchin schnell erkannt, womit man den schmuddeligen Jungen bändigen konnte. Ein Teller mit Kartoffeln, Fleisch und Soße gefüllt waren das Zaubermittel gewesen. Wie sie es erwartet hatte, war er mitten in der Bewegung erstarrt und hatte gierig auf den dampfenden Teller geschielt. Die Köchin hatte sich seinen dürren Arm gegriffen und ihn an den Tisch geführt. Ängstlich hatte er die drei Frauen angesehen, und erst auf Julias aufmunterndes Lächeln hin, zögerlich zu essen begonnen. Bereits nach den ersten Bissen, hatte er seine Scheu über Bord geworfen und alles gierig in sich hineingeschlungen. Als der Teller mit dem letzten Stück Brot penibel ausgewischt und kein einziger Krümel mehr übrig gewesen war, hatte Julia ihm ihre Hand auf die Schulter gelegt. Sofort waren Angst und Misstrauen in seinen Blick zurückgekehrt. Er war unter dieser sanften Berührung regelrecht erstarrt. So beruhigend und freundlich wie möglich hatte Julia den blonden Jungen angesprochen:
„Hab keine Angst, wir wollen dir nichts tun. Ich will dir helfen, aber dazu musst du mir sagen, wer du bist. Wo sind denn deine Eltern?“
Der gehetzte Ausdruck in den großen Augen war wieder stärker geworden. Er hatte nach einem Ausweg gesucht, doch die geballte Ladung weiblicher Fürsorge, der er sich gegenübersah, hatten einen Fluchtversuch unmöglich gemacht.
Tränen waren dem Jungen über die schmutzigen Wangen gekullert, doch er schwieg.
„Du willst doch sicherlich noch ein Stück Kuchen, dann sag uns doch einfach deinen Namen und du kannst einen haben“, hatte Miss Lane das Bürschchen zu locken versucht.
Aber alles Reden und Locken hatte nichts gebracht. Er hatte nicht einen Mucks von sich geben.
Erst Fanny Boyle, die selbst nur sehr wenigen Menschen traute und gut aus Gesichtern lesen konnte, hatte erkannt, was Julia entgangen war: Der Junge wollte antworten, doch er konnte nicht. Anscheinend konnte das Kind nicht sprechen.
„He, Kleiner,“, hatte Fanny, sich das lange rötliche Haar aus dem Gesicht streichend, das Gespräch begonnen, „hier, lass’ es dir schmecken.“
Sie hatte ihm ein großes Stück Kuchen in die Hand gedrückt und ihm über den Kopf gestrichen.
„So, da wir nun Freunde sind, du und ich, kannst du mir sicher glauben, dass wir dir nur helfen wollen. Ich bin Fanny und das sind Lady Julia und Miss Lane. Sie backt die besten Kuchen der Welt, findest du nicht auch?“
Zaghaft hatte Fanny gelächelt und ihm ihre Hand auf den Arm gelegt.
„Du hast wohl schon lange nichts mehr zu essen bekommen, was?“
Er schüttelte den Kopf.
„Hast du denn keine Familie, die sich um dich kümmert?“
Eine Träne war auf die Tischplatte getropft, als er erneut den Kopf geschüttelt hatte.
Julia und Miss Lane, die sich inzwischen leise zu den beiden an den Tisch gesetzt und die einseitige Unterhaltung verfolgt
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