Mitternachtsfalken: Roman
Herrn Möller vorbei, dem für dieses Haus zuständigen Lehrer. Leise öffnete er die Tür zu Tiks Zimmer und schlüpfte hinein.
Tik saß auf seinem Koffer und versuchte, ihn zuzukriegen. »Du!«, stieß er hervor. »Ach du heiliger Strohsack!«
Harald setzte sich neben ihn auf den Kofferdeckel und half ihm, die Schlösser einschnappen zu lassen. »Freust du dich schon auf zu Hause?«
»Schön wär‘s«, erwiderte Tik. »Nein, sie haben mich nach Aarhus verbannt. Dort muss ich den ganzen Sommer über in einer Zweigstelle unserer Bank arbeiten. Meine Strafe dafür, dass ich mit dir in diesen Jazzklub gegangen bin.«
»Oha!« Harald hatte sich darauf gefreut, dass Tik ihm in Kirstenslot bald Gesellschaft leisten würde, doch nun erwähnte er gar nicht erst, dass er zurzeit dort wohnte.
»Was machst du hier?«, fragte Tik, als sie den Koffer geschlossen und die Ledergurte festgezurrt hatten.
»Ich brauche deine Hilfe.«
Tik grinste. »Worum geht‘s diesmal?«
Harald zog die Rolle mit dem 35-mm-Film aus der Hosentasche. »Ich muss den hier entwickeln.«
»Warum bringst du ihn nicht in ein Fachgeschäft?«
»Weil ich dann verhaftet würde.«
Tiks Grinsen schwand und er wurde ernst. »Du hast dich in eine Konspiration gegen die Nazis reinziehen lassen.«
»So was Ähnliches.«
»Dann bist du in Gefahr.«
»Ja.«
Jemand klopfte von draußen an die Tür.
Harald ließ sich zu Boden fallen und schlüpfte unters Bett.
Tik sagte: »Herein!«
Harald hörte, wie die Tür aufging, und dann Möllers Stimme: »Bitte Licht ausmachen, Duchwitz.«
»Jawohl, Herr Möller.«
»Gute Nacht.«
»Gute Nacht, Herr Möller.«
Die Tür schloss sich wieder, und Harald rollte sich unter dem Bett hervor.
Sie lauschten, während Möller auf dem Flur seine Runde drehte und allen Jungen Gute Nacht sagte. Schließlich hörten sie, wie sich seine Schritte der eigenen Wohnung näherten. Dann schnappte deren Tür ein. Sie wussten nun, dass sich Möller vor dem nächsten Morgen nicht mehr blicken lassen würde – es sei denn, es gab einen Notfall.
Mit leiser Stimme sagte Harald zu Tik: »Hast du noch den Schlüssel zur Dunkelkammer?«
»Ja, aber zuerst mal müssen wir in die Labors kommen.« Das Naturwissenschaftliche Haus wurde über Nacht abgeschlossen.
»Wir können ein Fenster auf der Rückseite einschlagen.«
»Und wenn sie das kaputte Fenster sehen, wissen sie sofort, dass da wer eingebrochen ist.«
»Na und? Du fährst doch morgen sowieso nach Aarhus!«
»Stimmt. Na dann.«
Sie zogen die Schuhe aus und schlichen auf den Korridor hinaus. Leise gingen sie die Treppe hinunter. Erst an der Haustür zogen sie ihre Schuhe wieder an. Dann machten sie sich auf den Weg.
Mittlerweile war es schon nach elf und dunkel geworden. Zu dieser Stunde ging normalerweise niemand mehr über das Gelände, daher brauchten die beiden auch nicht zu befürchten, dass sie von einem Fenster aus gesehen wurden. Zum Glück schien der Mond nicht. Sie ließen das Rote Haus hinter sich und gingen über den Rasen, wo das Gras ihre Schritte dämpfte. Erst als sie vor der Kirche kurz innehielten, warf Harald einen Blick zurück und sah Licht in einem der von den älteren Schülern bewohnten Zimmer. Eine Gestalt tauchte hinter dem Fenster auf und blieb stehen. Sekundenbruchteile später waren Harald und Tik hinter der Kirche verschwunden.
»Ich glaube, wir sind gesehen worden«, flüsterte Harald. »Im Roten Haus brennt noch ein Licht.«
»Die Zimmer der Lehrer gehen alle nach hinten raus«, erinnerte ihn Tik. »Wenn uns jemand gesehen hat, dann war‘s einer von uns. Kein Grund zur Aufregung.«
Harald konnte nur hoffen, dass Tik Recht hatte.
Sie schlugen einen Bogen um die Bibliothek und näherten sich dem Wissenschaftshaus von der Rückseite her. Der Neubau war stilistisch an die älteren Gebäude angepasst worden, deshalb hatte er Mauern aus rotem Backstein und mehrfach unterteilte Flügelfenster mir jeweils sechs einzelnen Scheiben.
Harald zog einen Schuh vom Fuß und schlug mit dem Absatz gegen eine Fensterscheibe. Sie wirkte ziemlich widerstandsfähig. »Aber wenn du Fußball spielst, ist Glas immer hoch empfindlich«, murmelte er. Er schob eine Hand in den Schuh und schlug diesmal fest gegen die Scheibe. Sie zerbrach, und es klang wie die Trompeten von Jericho. Der Lärm ließ die beiden Jungen erstarren, doch die Stille sank wieder herab, als wäre nichts geschehen. In den umliegenden Gebäuden – der Kirche, der Bibliothek, der Turnhalle
Weitere Kostenlose Bücher