Mitternachtsfalken: Roman
Dresler über ihm, riss ihn hoch und drehte ihm den Arm auf den Rücken.
Flemming nickte Ellegard zu: »Nehmen Sie auch seinen Kollegen fest. Der muss Bescheid gewusst haben.« Dann wandte er seine Aufmerksamkeit dem Päckchen zu. Er wickelte es aus dem Wachstuch, öffnete es, entnahm ihm zwei Exemplare der Virkligheden und überreichte sie Juel.
Der Polizeirat sah erst die Zeitungen an, dann blickte er Flemming in die Augen.
Der Inspektor starrte erwartungsvoll zurück, sagte aber kein Wort.
»Gut gemacht, Flemming«, sagte Juel widerstrebend.
Der Inspektor lächelte. »Ich tue nur meine Pflicht, Herr Polizeirat.«
Juel wandte sich ab.
»Legen Sie den beiden Flugwarten Handschellen an«, sagte Flemming zu seinen Kollegen, »und bringen Sie sie zum Verhör ins Präsidium.«
Der Inhalt des Päckchens bestand nicht allein aus den beiden Zeitungen. Flemming förderte ein Bündel zusammengehefteter Papiere zutage. Sie waren von oben bis unten bedeckt mit Buchstaben in Fünfergruppen, die für den unbefangenen Betrachter keinen Sinn ergaben. Sekundenlang starrte Flemming die Papiere an und konnte sich keinen Reim darauf machen, dann aber setzte sich die Erkenntnis durch, dass er einen größeren Triumph erzielt hatte, als er sich hatte träumen lassen.
Bei den Papieren, die er in der Hand hielt, handelte es sich um eine verschlüsselte Botschaft.
Er reichte Braun seinen Fund. »Ich glaube, wir haben einen Spionagering aufgedeckt, Herr General.«
Braun betrachtete die Papiere und wurde blass. »Mein Gott, Sie haben Recht.«
»Die deutsche Militärverwaltung hat doch sicher Spezialisten, die feindliche Codes knacken können?«
»In der Tat hat sie die.«
»Sehr schön«, gab Flemming zurück.
E ine altmodische, von zwei Pferden gezogene Kutsche holte Harald Olufsen und Tik Duchwitz am Bahnhof von Kirstenslot ab. Tik erklärte seinem Begleiter, dass das Gefährt seit vielen Jahren ungenutzt in einer Scheune verrottet und erst, nachdem die Deutschen das Benzin rationiert hatten, zu neuen Ehren gekommen war. Die frisch gestrichene Karosserie schimmerte, doch die Pferde waren ganz normale Zugpferde, die man sich von einem Bauernhof ausgeliehen hatte. Der Kutscher erweckte den Eindruck, als fühle er sich hinter einem Pflug wohler.
Harald wusste nicht genau, warum Tik ihn übers Wochenende zu sich eingeladen hatte. Die drei Verrückten hatten einander noch nie in ihren jeweiligen Elternhäusern besucht, obwohl sie schon seit sieben Jahren dick befreundet waren. Möglicherweise war die Einladung eine Folge von Haralds Ausfall gegen die Nazis beim Vortrag dieses Abgeordneten. Vielleicht waren Tiks Eltern neugierig auf den Pastorensohn, der sich so große Sorgen wegen der Judenverfolgung machte.
Die Kutsche verließ den Bahnhofsvorplatz und rollte durch ein kleines Dorf mit einer Kirche und einem Gasthaus. Am anderen Ende des Dorfes bog sie von der Hauptstraße in eine Toreinfahrt, die von zwei schweren steinernen Löwen gesäumt war. Vor ihnen, wenn auch noch ungefähr einen knappen Kilometer entfernt, erblickte Harald ein Märchenschloss mit Zinnen und Türmen.
In Dänemark gab es Hunderte von Schlössern und Burgen. Manchmal empfand Harald dies als geradezu tröstlich. Das kleine Land hatte sich nicht immer in so unterwürfiger Weise seinen kriegerischen Nachbarn ergeben. Vielleicht war doch etwas vom alten Wikingergeist übrig geblieben.
Einige Schlösser waren historische Monumente, die zu Museen umfunktioniert worden waren und als Touristenattraktionen dienten. Die meisten waren nicht viel mehr als Gutshäuser, in denen wohlhabende Familien wohnten. Doch dazwischen gab es einige Prachtbauten, die den reichsten Familien des Landes gehörten, und Kirstenslot – das Schloss hatte den gleichen Namen wie das Dorf- war einer davon.
Harald war tief beeindruckt. Dass die Familie Duchwitz viel Geld besaß – Tiks Vater und sein Onkel waren Bankiers -, hatte er gewusst, aber mit dem, was er jetzt sah, hatte er nicht gerechnet. Beklommen fragte er sich, ob er überhaupt wusste, wie man sich in einer solchen Umgebung benahm. Nichts in seinem Leben im Pfarrhaus hatte ihn auf so etwas vorbereitet.
Es war Samstag und schon recht spät am Nachmittag, als die Kutsche die beiden jungen Männer vor dem kathedralenartigen Portal absetzte. Harald, der seinen kleinen Koffer bei sich trug, trat ein und gelangte in eine Marmorhalle, die reichhaltig mit alten Stilmöbeln, bemalten Vasen, kleinen Statuen und großen Ölbildern
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