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Mitternachtsfalken: Roman

Titel: Mitternachtsfalken: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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ausgestattet war. In Haralds Familie neigte man dazu, das Zweite Gebot wörtlich zu nehmen, das es verbot, sich ein »Bildnis noch irgendein Gleichnis« zu machen, weshalb es im Pfarrhaus keinerlei Bilder gab (Harald wusste allerdings, dass man ihn und Arne als Babys heimlich fotografiert hatte, denn er hatte die Bilder einmal in der Schublade, in der seine Mutter ihre Strümpfe aufbewahrte, entdeckt). Den Reichtum an Kunstschätzen im Hause Duchwitz empfand er als bedrängend und fühlte sich nicht ganz wohl in seiner Haut.
    Tik führte ihn eine große Treppe hinauf und in ein Schlafzimmer. »Das ist mein Zimmer«, sagte er. Hier gab es keine alten Meister oder chinesischen Vasen, sondern nur die üblichen Utensilien, mit denen sich ein Achtzehnjähriger in seinem Zimmer umgab: einen Fußball, ein heißes Foto von Marlene Dietrich, eine Klarinette und die gerahmte Anzeige für einen von Pininfarina entworfenen Lancia Aprilla.
    Harald nahm eine gerahmte Fotografie in die Hand. Sie zeigte Tik vor etwa vier Jahren mit einem ungefähr gleichaltrigen Mädchen. »Welche Freundin ist denn das?«, wollte er wissen.
    »Das ist Karen, meine Zwillingsschwester.«
    »Oh!« Harald hatte irgendwann schon einmal gehört, dass Tik ein Zwilling war. Auf dem Bild war Karen größer als er. Es war ein Schwarzweißfoto, doch wirkte ihr Teint ein bisschen heller als der ihres Bruders. »Eineiige Zwillinge seid ihr offenbar nicht, dazu ist sie zu hübsch.«
    »Eineiige Zwillinge müssen das gleiche Geschlecht haben, du Idiot.«
    »Wo geht sie zur Schule?«
    »Im Königlich-Dänischen Ballett.«
    »Ich wusste nicht, dass die auch eine Schule haben.«
    »Wenn du zum Corps de Ballet gehören willst, musst du auch die Schule besuchen. Manche Mädchen fangen schon mit fünf dort an. Die haben den üblichen Unterricht und dazu eben auch Tanzen.«
    »Gefällt‘s ihr dort?«
    Tik zuckte mit den Schultern. »Es ist hart, sagt sie.« Er öffnete eine Tür und ging durch einen kurzen Flur, der zu einem Badezimmer und einem zweiten, kleineren Schlafzimmer führte. Harald folgte ihm. »Du bist hier einquartiert, wenn‘s dir recht ist«, sagte Tik. »Das Badezimmer teilen wir uns.«
    »Toll«, sagte Harald und ließ seinen Koffer aufs Bett fallen.
    »Du könntest auch in einem größeren Zimmer schlafen, aber das wäre in einem ganz anderen Flügel.«
    »Nein, dann lieber hier.«
    »Komm, ich möchte dich meiner Mutter vorstellen.«
    Harald folgte Tik durch den Hauptkorridor. Sein Freund klopfte an eine Tür, öffnete sie einen Spalt weit und sagte: »Empfängst du Herrenbesuch, Mutter?«
    Eine Stimme antwortete: »Komm herein, Josef.«
    Mit Harald auf den Fersen betrat Tik das Boudoir von Frau Duchwitz, ein hübsches Zimmer, in dem überall gerahmte Fotografien herumstanden und -hingen. Tiks Mutter sah aus wie ihr Sohn: Sie war sehr klein, wenn auch eher rundlich, während er schlank war, und hatte die gleichen dunklen Augen. Harald schätzte sie auf ungefähr vierzig, doch ihr schwarzes Haar zeigte bereits Spuren von Grau.
    Tik stellte ihr Harald vor, der ihr die Hand reichte und einen kleinen Diener machte. Frau Duchwitz bat die beiden, Platz zu nehmen, und fragte sie nach der Schule. Sie war liebenswürdig, und man konnte sich gut mit ihr unterhalten. Haralds Befürchtungen wegen des bevorstehenden Wochenendes begannen sich zu legen.
    Nach einer Weile sagte Frau Duchwitz: »So, nun macht euch mal fertig fürs Essen.«
    Die Jungen kehrten in Tiks Zimmer zurück. »Ihr zieht euch doch nicht extra um vor dem Essen?«, fragte Harald nervös.
    »Dein Blazer und die Krawatte passen schon.«
    Das war ohnehin alles, was Harald besaß. Der Schul-Blazer, die dazugehörigen Hosen, der Mantel und die Mütze sowie die Sportkleidung bedeuteten für die Olufsens ein großes finanzielles Opfer, zumal sie ständig ersetzt werden mussten, da Harald jedes Jahr um einige Zentimeter wuchs. Andere Kleider hatte er nicht – mit Ausnahme von Pullovern für den Winter und kurzen Hosen für den Sommer. »Was wirst du denn anziehen?«, fragte er Tik.
    »Ein schwarzes Jackett und graue Flanellhosen.«
    Harald war heilfroh, dass er ein weißes Hemd mitgenommen hatte.
    »Möchtest du zuerst ins Bad?«, fragte Tik.
    »Ja, gerne.« Die Vorstellung, vor dem Essen ein Bad zu nehmen, war Harald ziemlich fremd – aber, dachte er bei sich, so lerne ich wenigstens mal den Lebensstil der Reichen kennen.
    Während er sich in der Badewanne die Haare wusch, rasierte sich Tik über dem

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