Mitternachtsfalken: Roman
noch so nahe zu kommen, dass sie seinen Atem riechen konnte. Stattdessen bestellte er Weichkäse und Gurken. Sie gaben dem Kellner ihre Lebensmittelmarken.
»Gibt es in dem Spionagefall irgendwelche Fortschritte?«, fragte Tilde.
»Kaum der Rede wert. Die beiden Festgenommenen haben keine Aussagen gemacht. Sie wurden dann nach Hamburg verfrachtet und sind dort einem, wie die Gestapo sich ausdrückt, eingehenden Verhör unterzogen worden. Dabei fiel der Name ihrer Kontaktperson – Mat- thies Hertz, ein Armee-Offizier. Aber der ist untergetaucht.«
»Eine Sackgasse also.«
»Ja.« Die Bemerkung erinnerte ihn an eine andere Sackgasse, in der er steckte. »Kennen Sie eigentlich irgendwelche Juden?«
Tilde blickte überrascht auf. »Einen oder zwei, glaube ich, und sie gehören nicht zur Polizei. Wieso fragen Sie das?«
»Ich mache eine Liste.«
»Eine Liste der Juden?«
»Ja.«
»Wo? In Kopenhagen?«
»In Dänemark.«
»Warum?«
»Aus den üblichen Gründen. Unruhestifter zu überwachen, gehört zu meinen beruflichen Pflichten.«
»Und Juden sind Unruhestifter?«
»Die Deutschen glauben es.«
»Dass die mit den Juden Schwierigkeiten haben, ist ja klar – aber haben wir die auch?«
Damit hatte er nicht gerechnet. Er hatte erwartet, dass sie seine Ansicht teilte. »Man sollte auf jeden Fall vorbereitet sein. Wir haben Listen mit Gewerkschaftsführern, Kommunisten, Ausländern und den Mitgliedern der dänischen Nazi-Partei.«
»Und das ist alles dasselbe für Sie?«
»Es geht nur um die Informationen. Juden, die in den letzten fünfzig Jahren bei uns eingewandert sind, lassen sich ja leicht identifizieren – sie ziehen sich komisch an, sie sprechen mit einem eigenartigen
Akzent, und die meisten von ihnen wohnen in ein paar bestimmten Straßen in Kopenhagen. Es gibt aber auch Juden, deren Familien schon seit Jahrhunderten in Dänemark ansässig sind – und die sehen genauso aus wie ganz normale Dänen und reden auch so. Die meisten von ihnen essen gebratenes Schweinefleisch und arbeiten am Samstagvormittag. Wenn wir die mal ausfindig machen müssten, bekämen wir ziemliche Schwierigkeiten. Deshalb stelle ich eine Liste zusammen.«
»Und wie machen Sie das? Sie können doch nicht einfach von einem zum anderen gehen und ihn fragen, ob er Juden kennt.«
»Ja, das ist ein Problem. Ich habe zwei jüngere Kollegen beauftragt, das Telefonbuch und ein oder zwei andere Verzeichnisse nach jüdisch klingenden Namen zu durchforsten.«
»Nicht gerade sehr verlässlich. Es gibt zum Beispiel einen ganzen Haufen Isaksens, die keine Juden sind.«
»Und viele Juden mit Namen wie Jan Christiansen. Am liebsten würde ich die Synagoge durchsuchen lassen. Dort gibt es wahrscheinlich eine Mitgliederliste.«
Zu seiner Überraschung schien Tilde von dieser Idee gar nichts zu halten. Doch sie sagte: »Und warum tun Sie‘s nicht?«
»Weil Juel es nicht zulässt.«
»Zu Recht, glaube ich.«
»Ist das Ihr Ernst? Warum?«
»Sehen Sie das denn nicht ein, Peter? Wissen Sie denn nicht, wozu eine solche Liste in Zukunft benutzt werden kann?«
»Ist das denn nicht klar?«, fragte Flemming gereizt zurück. »Wenn jüdische Gruppen anfangen, sich im Widerstand gegen die Deutschen zu organisieren, wissen wir, wo wir die Verdächtigen zu suchen haben.«
»Und was ist, wenn die Nazis beschließen, alle Juden zusammenzutreiben und in diese deutschen Konzentrationslager zu verschleppen? Die nehmen dann einfach Ihre Liste!«
»Aber warum sollten sie die Juden in Lager verschleppen?«
»Weil Nazis Juden hassen. Aber wir sind keine Nazis, wir sind Polizeibeamte. Wir verhaften Menschen, weil sie Verbrechen begangen
haben – nicht, weil wir sie hassen.«
»Das weiß ich«, sagte Flemming wütend. Nie und nimmer hatte er damit gerechnet, aus dieser Richtung angegriffen zu werden. Tilde, dachte er, sollte eigentlich wissen, dass mein Motiv die Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung ist, und nicht deren Unterminierung. »Das Risiko, dass eine Information missbraucht wird, besteht immer«, sagte er.
»Wäre es daher nicht besser, von vornherein auf die Zusammenstellung dieser verdammten Liste zu verzichten?«
Wie konnte diese Frau nur so dämlich sein? Es machte ihn fast verrückt, dass ihm jemand, den er bisher für einen Mitstreiter im Krieg gegen die Gesetzesbrecher gehalten hatte, so hartnäckig widersprach. »Nein!«, schrie er, und es kostete ihn Überwindung, wieder zu einem normalen Ton zurückzufinden. »Wenn alle so denken
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