Mitternachtskinder: Roman (German Edition)
konnte einzelne Stimmen auswählen, ich konnte durch eine Willensanstrengung sogar mein neu entdecktes inneres Ohr abstellen. Es war erstaunlich,
wie schnell die Angst mich verließ; gegen Morgen dachte ich: «Mann, das ist besser als All-India Radio, Mann, besser als Radio Ceylon!»
Um die Loyalität von Schwestern vorzuführen: Als die vierundzwanzig Stunden um waren, lief das Messingäffchen auf der Stelle ins Schlafzimmer meiner Mutter. (Es war, glaube ich, ein Sonntag: keine Schule. Oder vielleicht auch nicht – es war der Sommer der Sprachmärsche, und oft waren die Schulen geschlossen, weil auf den Busstrecken Gefahr bestand, dass es zu Gewalttätigkeiten kam.)
«Die Zeit ist um!», rief sie und rüttelte meine Mutter aus dem Schlaf. «Amma, wach auf, es ist Zeit! Darf er jetzt reden?»
«Na gut», sagte meine Mutter und kam in ein himmelblaues Zimmer, um mich zu umarmen, «wir haben dir verziehen. Aber versteck dich nie wieder dort drin ...»
«Amma», sagte ich eifrig, «meine Ammi, hör mir bitte zu. Ich muss dir was sagen. Etwas Wichtiges. Aber bitte, bitte, weck zuallererst Abba.» Und nach vielen «Was?», «Warum?» und «Gewiss nicht» sah meine Mutter, dass etwas Außergewöhnliches in meinen Augen lag, und ging besorgt hin, um Ahmed Sinai aufzuwecken: «Janum, bitte komm. Ich weiß nicht, was in Saleem gefahren ist.»
Familie und Ayah versammelten sich im Wohnzimmer. Zwischen Kristallvasen und prallen Kissen stand ich auf einem persischen Läufer unter den wirbelnden Schatten des Deckenventilators und lächelte in ihre besorgten Augen und bereitete meine Offenbarung vor. Das war es – der Beginn meiner Erstattung ihrer Investition, meine erste Dividendenausschüttung, die erste von vielen, dessen war ich sicher ... meine schwarze Mutter, der Vater mit vorstehender Lippe, das Äffchen von einer Schwester und die Ayah, die ein Verbrechen verheimlichte, warteten in siedend heißer Verwirrung.
Spuck’s aus. Direkt, frisch von der Leber weg. «Ihr sollt die Ersten sein, die es erfahren», sagte ich und versuchte meiner Stimme einen erwachsenen Tonfall zu verleihen. Und dann trug ich es ihnen vor. «Ich habe gestern Stimmen gehört. In meinem Kopf sprechen Stimmen
zu mir. Ich glaube – Ammi, Abboo, ich glaub’ das wirklich –, Erzengel haben angefangen, mit mir zu reden.»
Endlich! Glaubte ich! Jetzt! Jetzt ist es gesagt! Nun wird es Rückenklopfen geben, Süßigkeiten, öffentliche Ankündigungen, noch mehr Fotos vielleicht, nun werden ihre Brustkästen vor Stolz schwellen. O blinde Unschuld der Kindheit! Als Dank für meine Ehrlichkeit – für meinen offenherzig-verzweifelten Versuch zu gefallen – fiel man von allen Seiten über mich her. Selbst das Äffchen: «O Gott, Saleem, dieser ganze Tamasha, dieser ganze Zirkus wegen so einer blöden Hirnrissigkeit?» Und schlimmer als das Äffchen war Mary Pereira: «Jesus Christus, Herr, bewahre uns. Heiliger Vater in Rom, was für eine Gotteslästerung habe ich heute gehört!» Und schlimmer als Mary Pereira war meine Mutter Amina Sinai: Die schwarze Mango jetzt verborgen, ihre eigenen unaussprechlichen Namen noch warm auf ihren Lippen, schrie sie:« Der Himmel behüte! Das Kind wird es noch fertig bringen, dass uns das Dach über dem Kopf zusammenstürzt!» (War auch das meine Schuld?) Und Amina fuhr fort: «Du schwarzer Mann! Goonda! O Saleem, bist du denn vollkommen übergeschnappt? Was ist denn bloß passiert mit meinem lieben kleinen Jungen – wirst du zu einem Wahnsinnigen – einem Peiniger?!» Und schlimmer als Aminas Schreien war das Schweigen meines Vaters, schlimmer als ihre Angst war die ungezügelte Wut, die ihm auf der Stirn geschrieben stand, und am schlimmsten von allem war die Hand meines Vaters, die sich plötzlich ausstreckte, mit dicken Fingern, massigen Gelenken, stark wie die eines Ochsen, um mir einen mächtigen Schlag gegen den Kopf zu versetzen, sodass ich nach jenem Tag auf dem linken Ohr nie wieder richtig hören konnte, sodass ich seitwärts durch das aufgeschreckte Zimmer, durch die schockierte Atmosphäre flog und eine grüne Tischplatte aus opakem Glas zertrümmerte, sodass ich, nachdem ich zum ersten Mal in meinem Leben meiner selbst sicher gewesen war, in eine grüne, glasig wolkige Welt voll schneidender Kanten gestürzt wurde, eine Welt, in der ich den Menschen, auf die es am meisten
ankam, nichts mehr von den Vorgängen in meinem Kopf erzählen konnte; grüne Scherben zerfleischten mir die Hände,
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