Mitternachtskinder: Roman (German Edition)
Wäsche wie eine Haube um meinen Kopf gewickelt. Die Pajamakordel wird meiner Nase entrissen, und nun schießt ein Blitz durch die dunklen Wolken um meine Mutter – und ein Refugium ist für immer verloren.
«Ich hab’ nicht hingesehen», winselte ich durch Socken und Betttücher hindurch. «Ich habe nichts gesehen, Ammi, ich schwör’ es dir!!»
Und Jahre später, in einem Korbsessel sitzend, zwischen Handtüchern mit kleinen Fehlern und einem Radio, das übertriebene Siegesmeldungen brachte, erinnerte Amina sich daran, wie sie
Daumen und Zeigefinger um das Ohr ihres lügenhaften Sohnes geschlossen und ihn zu Mary Pereira geführt hatte, die wie üblich auf einer Schilfmatte in einem himmelblauen Zimmer schlief; wie sie gesagt hatte: «Dieser junge Esel, dieser hergelaufene Tunichtgut darf einen ganzen Tag lang nicht sprechen.» ... Und kurz bevor das Dach auf sie fiel, sagte sie laut: «Es war meine Schuld. Ich habe ihn zu schlecht erzogen.» Als die Explosion der Bombe die Luft durchschnitt, fügte sie, ihre letzten Worte auf Erden an den Geist einer Wäschetruhe richtend, sanft, aber bestimmt hinzu: «Geh jetzt weg. Ich hab’ genug von dir.»
Auf dem Berg Sinai hörte der Prophet Musa oder Moses Gebote, die nicht von einem Körper stammten; auf dem Berg Hira sprach der Prophet Muhammad (auch als Mohammed, Mahomet, der Vorletzte und Mahound bekannt) zum Erzengel (Gabriel oder Jibreel, wie Sie wollen). Und auf der Bühne der Cathedral and John Cannon High School für Jungen, die «unter der Schirmherrschaft» der Anglo-Schottischen Erziehungsgesellschaft stand, hörte mein Freund Cyrus-der-Große, der wie üblich eine Frauenrolle spielte, die Stimmen der heiligen Johanna, die die Sätze Bernard Shaws sprach. Aber Cyrus scheidet aus; anders als Johanna, deren Stimmen in einem Feld gehört wurden, hörte ich, wie Musa oder Moses, wie Muhammad der Vorletzte, Stimmen auf einem Hügel.
Muhammad (über dessen Namen wir uns nicht streiten wollen, möchte ich hinzufügen; ich möchte niemanden beleidigen) hörte eine Stimme sagen: «Trag vor!» und dachte, er würde verrückt; ich hörte zuerst einen Kopf voll plapperndes Gerede wie in einem nicht exakt eingestellten Radio, und da mir durch mütterliches Gebot die Lippen versiegelt waren, konnte ich auch nicht um Trost bitten. Muhammad, der immerhin vierzig war, suchte und erhielt Bestätigung von Frau und Freunden. «Wahrlich», sagten sie, «du bist der Gesandte Gottes.» Ich, der mit fastneun meine Strafe erduldete, konnte weder die Hilfe des Messingäffchens in Anspruch nehmen
noch Mary Pereira um besänftigende Worte bitten. Verstummt für einen Abend und eine Nacht und einen Morgen, mühte ich mich allein ab, zu verstehen, was mir zugestoßen war, bis ich endlich den Schal der Genialität wie einen bestickten Schmetterling herabflattern sah und der Mantel der Größe sich auf meinen Schultern niederließ.
In der Hitze jener stummen Nacht (ich war stumm; um mich herum raschelte das Meer wie Papier in der Ferne, Krähen krächzten in den Fängen ihrer fedrigen Albträume, die tuckernden Geräusche saumseliger Taxis drangen von der Warden Road herauf, das Messingäffchen bettelte, bevor es mit einem in der Maske der Neugierde erstarrten Gesicht einschlief. «Komm schon, Saleem, kein Mensch hört zu. Was hast du getan? Erzähl, erzähl, erzähl!» ... während in mir die Stimmen gegen meine Schädelwände dröhnten) war ich von den heißen Fingern der Erregung gepackt – die aufgewiegelten Insekten der Erregung tanzten in meinem Bauch –, denn auf eine Art, die ich damals nicht ganz verstand, war endlich die Tür, die Toxy Catrack in meinem Kopf einmal heimlich aufgedrückt hatte, aufgebrochen worden, und durch sie hindurch konnte ich – zunächst noch schattenhaft, unbestimmt, rätselvoll – den Grund erspähen, warum ich geboren worden war.
Gabriel oder Jibreel befahl Muhammad: «Trag vor!», und dann begann Der Vortrag, im Arabischen als Al-Quran bekannt: «Trag vor im Namen deines Herrn, der erschuf. Er schuf den Menschen aus einem Klumpen Blut ...» Das war auf dem Berg Hira außerhalb von Mekka Sharif; auf einem zweigeschossigen Hügelchen gegenüber dem Breach-Candy-Schwimmbad wiesen auch mich Stimmen an vorzutragen: «Morgen!», dachte ich aufgeregt. «Morgen!»
Bis Sonnenaufgang hatte ich entdeckt, dass die Stimmen kontrolliert werden konnten – ich war ein Rundfunkempfänger und konnte die Lautstärke laut und leise stellen, ich
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