Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Titel: Mitternachtskinder: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
Vom Netzwerk:
für die Jahreszeit ungewöhnlich heiß. Damals wie heute wachte jemand im Dunkeln und hörte körperlose Zungen. Damals wie heute das eine taube Ohr. Und Angst, die in der Hitze gedieh ... damals wie heute waren es nicht die Stimmen, die beängstigend waren. Er, der damals junge Saleem, hatte Angst vor einem Gedanken – dem Gedanken, die Empörung seiner Eltern könnte dazu führen, dass sie ihm ihre Liebe entzogen, und selbst wenn sie anfingen, ihm zu glauben, würden sie seine Gabe als beschämende Missbildung ansehen ... während ich heute, ohne Padma, diese Worte in die Dunkelheit schicke und
Angst habe, dass man mir nicht glaubt. Er und ich, ich und er ... ich habe seine Gabe nicht mehr, und er hatte die meine nie. Es gibt Zeiten, in denen er mir beinah wie ein Fremder vorkommt ... er hatte keinen Knacks. Keine Spinnweben durchzogen ihn in der Hitze.
    Padma würde mir glauben, aber Padma ist nicht da. Damals wie heute: Hunger. Aber anderer Art: Nun habe ich nicht wie damals Hunger, weil mir mein Essen verweigert wird, sondern weil ich meine Köchin verloren habe.
    Und ein weiterer, offensichtlicherer Unterschied: Damals kamen die Stimmen nicht über die Schwingungen im Transistor (das in unserem Teil der Welt nie mehr aufhören wird, Impotenz zu symbolisieren  – seit der allbekannten Bestechung mit dem kostenlosen Transistorgerät für eine Sterilisation verkörpert die keifende Maschine das, was Männer vollziehen konnten, bevor Scheren zuschnappten und Knoten geknüpft wurden) ... Damals brauchte der Fastneunjährige in seinem mitternächtlichen Bett keine Maschinen.
    Unterschiedlich und ähnlich, sind wir vereint durch Hitze. Damals wie heute blendet ein schimmernder Hitzeschleier seine damalige Zeit in die meinige über ... meine Verwirrung, die sich durch Hitzewellen fortpflanzt, ist auch die seinige.
    Was am besten gedeiht bei Hitze: Zuckerrohr, Kokospalmen, bestimmte Hirsesorten wie Bajra, Ragi und Jowar und, vorausgesetzt, es gibt Wasser, Tee und Reis. Unser heißes Land ist auch der Welt zweitgrößter Baumwollproduzent – jedenfalls war es das, als ich unter dem verrückten Auge von Herrn Emil Zagollo und dem kälteren Blick eines eingerahmten spanischen Konquistadors Geographie lernte. Doch der tropische Sommer bringt auch fremdartigere Früchte hervor: Die exotischen Blumen der Imagination blühen und erfüllen die drückenden, dampfenden Nächte mit Gerüchen, schwer wie Moschus, die den Menschen düstere Träume der Unzufriedenheit eingeben – damals wie heute lag Unbehagen
in der Luft. Teilnehmer an Sprachmärschen verlangten die Aufteilung des Staates Bombay entlang von Sprachgrenzen – der Traum von Maharashtra stand an der Spitze einiger Prozessionen, das Wunschbild von Gujarat führte die anderen vorwärts. Die Hitze, die an der verstandesmäßigen Unterscheidung zwischen Phantasie und Realität nagte, ließ alles möglich erscheinen; das halb wache Chaos nachmittäglicher Siestas benebelte die Gehirne der Menschen, und die Luft war erfüllt von der Klebrigkeit erweckter Begierden.
    Was am besten gedeiht bei Hitze: Phantasie, Unvernunft, Lust.
    Im Jahre 1956 marschierten bei Tag also Sprachen militant durch die Straßen, des Nachts wüteten sie in meinem Kopf. Mit gespannter Aufmerksamkeit werden wir über dein Leben wachen; es wird gewissermaßen der Spiegel unseres eigenen sein.
    Es ist Zeit, über die Stimmen zu reden.
    Wenn doch nur unsere Padma hier wäre ...
     
    Das mit den Erzengeln war natürlich ein Irrtum. Die Hand meines Vaters – die in (bewusster? unbeabsichtigter?) Nachahmung einer anderen, körperlosen Hand, die ihn einmal direkt ins Gesicht geschlagen hatte, auf mein Ohr eindrosch – hatte zumindest die eine heilsame Wirkung: sie zwang mich, meine ursprüngliche, Propheten nachäffende Haltung zu überdenken und schließlich aufzugeben. Als ich in jener Nacht, da ich in Ungnade gefallen war, im Bett lag, zog ich mich tief in mich zurück, obwohl das Messingäffchen in unserem blauen Zimmer quengelte. «Aber wozu hast du es getan, Saleem? Du, der du doch sonst immer viel zu brav bist und alles?» ... bis sie unzufrieden einschlief, während ihr Mund immer noch still arbeitete und ich allein war mit dem Echo der Gewalttat meines Vaters, das in meinem linken Ohr summte, das flüsterte: «Weder Michael noch Anael, auch nicht Gabriel, vergiss Cassiel, Sachiel und Samael! Erzengel sprechen nicht mehr zu den Sterblichen. Der Vortrag wurde vor langer Zeit in

Weitere Kostenlose Bücher