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Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Titel: Mitternachtskinder: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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als ich in dieses wirbelnde Universum eintrat, in dem ich, bis es schließlich zu spät war, von ständigen Zweifeln hinsichtlich meiner Bestimmung gequält werden sollte.
    In einem weiß gekachelten Badezimmer bestrich meine Mutter mich neben einer Wäschetruhe mit Jod, Gaze umhüllte meine Schnittwunden, während die Stimme meines Vaters durch die Tür befahl: «Frau, dass niemand ihm heute etwas zu essen gibt. Hörst du? Soll er seinen Scherz auf nüchternen Magen genießen!»
    In jener Nacht träumte Amina Sinai von Ramram Seth, der zehn Zentimeter über dem Boden schwebte und dessen Augenhöhlen mit dem Weißen von Eiern gefüllt waren. Er stimmte an: Wäsche wird ihn den Blicken entzieh’n – Stimmen werden ihn des Weges führ’n ... aber als sie sich nach mehreren Tagen, in denen der Traum ihr, wohin sie auch ging, auf den Schultern saß, ein Herz fasste, um ihren in Ungnade gefallenen Sohn ein wenig über seine ungeheuerliche Behauptung auszufragen, antwortete er mit einer Stimme, die genauso verhalten war wie die ungeweinten Tränen seiner Kindheit: «Ich war nur albern, Amma. Ein dummer Scherz, wie du gesagt hast.»
    Sie starb neun Jahre später, ohne die Wahrheit erfahren zu haben.

All-India Radio
    Realität ist eine Frage der Perspektive; je weiter man sich von der Vergangenheit entfernt, desto konkreter und plausibler erscheint sie – aber nähert man sich der Gegenwart, erscheint sie unvermeidlich immer unglaublicher. Stellen Sie sich vor, Sie sind in einem großen Kino, sitzen zuerst in der letzten Reihe und rücken allmählich Reihe um Reihe nach vorne, bis Ihre Nase fast gegen die Leinwand gepresst wird. Allmählich lösen die Gesichter der Stars sich in tanzendes Korn auf, winzige Einzelheiten nehmen groteske Ausmaße an, die Illusion löst sich auf – oder besser, es wird klar, dass die Illusion selbst Wirklichkeit ist ... wir sind von 1915 bis 1956 gekommen, sind also der Leinwand ein gutes Stück näher ... hiermit gehe ich aus dem Bild und wiederhole ohne jegliches Schamgefühl noch einmal meine unglaubliche Behauptung: Nach einem merkwürdigen Vorfall in einer Wäschetruhe wurde ich eine Art Radio.
    ... Aber heute fühle ich mich verwirrt. Padma ist nicht zurückgekehrt  – soll ich die Polizei alarmieren? soll ich sie als vermisst melden? –, und in ihrer Abwesenheit bröckelt meine Gewissheit. Selbst meine Nase spielt mir Streiche – als ich tagsüber zwischen den Pickleskesseln herumstreifte, um die sich unsere Armee starker, erschreckend kompetenter Frauen mit behaarten Armen kümmert, habe ich gemerkt, dass ich nicht in der Lage war, Zitronen- von Limonengeruch zu unterscheiden. Die Belegschaft kichert hinter vorgehaltener Hand: der arme Sahib hat Unglück gehabt – worin? – doch sicher nicht in der Liebe?  ... Padma, und die Risse verbreiten sich über meinem ganzen Körper, verteilen sich wie ein Spinnennetz strahlenförmig von meinem Nabel aus, und die Hitze ... unter diesen Umständen ist ein wenig Verwirrung sicher gestattet. Beim
Durchlesen meiner Arbeit habe ich einen Irrtum in der Chronologie entdeckt. Die Ermordung Mahatma Gandhis ereignet sich auf diesen Seiten zum falschen Zeitpunkt. Aber ich kann nun nicht sagen, wie die Ereignisfolge tatsächlich gewesen ist; in meinem Indien wird Gandhi weiterhin zur falschen Zeit sterben.
    Entkräftet ein Irrtum das ganze Gefüge? Ist es in meinem verzweifelten Verlangen nach Bedeutung schon so weit mit mir gekommen, dass ich bereit bin, alles zu verdrehen – die ganze Geschichte meines Zeitalters neu zu schreiben, bloß um mich in den Mittelpunkt zu stellen? In meiner Verwirrung kann ich es nicht beurteilen. Das muss ich anderen überlassen. Für mich kann es kein Zurück mehr geben; ich muss beenden, was ich angefangen habe, selbst wenn es sich unweigerlich nicht als das herausstellt, was ich begonnen habe ...
    Yé Akashvani hai. Hier ist All-India Radio.
    Ich bin in die brodelnden Straßen hinausgegangen, um in einem nahe gelegenen iranischen Café rasch etwas zu essen; nun, wieder zurückgekehrt, sitze ich mit nur einem billigen Transistor zur Gesellschaft im nächtlichen Lichtkegel meiner Schwenklampe. Eine heiße Nacht, siedende Luft, erfüllt von den nachhaltigen Düften der verstummten Pickleskessel, Stimmen im Dunkeln. Picklesgerüche, drückend schwül in der Hitze, regen die Säfte der Erinnerung an, betonen Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen damals und heute ... damals war es heiß; heute ist es

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