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Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Titel: Mitternachtskinder: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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in seine Ayah Mary Pereira und in seinen Onkel Hanif verwandelt worden.
    Hanif Aziz dröhnte wie die Schiffssirenen im Hafen und roch wie eine alte Tabakfabrik. Ich liebte ihn innig wegen seines Lachens, seines unrasierten Kinns, weil er so aussah, als sei er ziemlich locker zusammengesetzt, und weil seine Bewegungen so schlecht koordiniert waren, dass jede Geste zum Risiko wurde. (Wenn er Buckingham Villa besuchte, versteckte meine Mutter die Kristallvasen.) Erwachsene trauten ihm nie zu, dass er sich mit angemessener Schicklichkeit benahm («Behaltet die Kommunisten im Auge!», grölte er, und sie erröteten), und das war ein Bindeglied zwischen ihm und allen Kindern – anderer Leute Kinder, da er und Pia keine Kinder hatten. Onkel Hanif, der eines Tages ohne Vorwarnung vom Dach seines Hauses spazieren sollte.
    ... Er haut mir auf den Rücken und wirft mich nach vorn in Marys Arme. «He, kleiner Ringer! Gut siehst du aus!» Doch Mary, hastig: «Aber so dünn, Jesus! Hast du nicht richtig zu essen gekriegt? Willst du Maismehlpudding? Bananenmilch? Haben sie dir Pommes frites gegeben?» ... während Saleem sich in dieser neuen Welt umsieht, in der alles zu schnell zu gehen scheint; seine Stimme klingt, als sie schließlich ertönt, ganz hoch, als habe jemand sie beschleunigt: «Amma-Abba?», fragt er. «Das Äffchen?» Und Hanif dröhnt: «Ja, alles paletti! Der Junge ist wirklich tipptopp in Form! Komm schon, Phaelwan: Drehen wir eine Runde in meinem Packard, okay?» Und gleichzeitig redet Mary Pereira. «Schokoladenkuchen», verspricht sie, «Laddoos, Pistaki-Lauz, Fleischsamosas, Kulfi. So dünn bist du geworden, Baba, der Wind bläst dich ja weg.» Der Packard fährt davon, verpasst die Abbiegung von der Warden Road zu dem zweigeschossigen Hügelchen, und Saleem: «Hanif Mamu, wohin ...» Keine Zeit, den Satz zu Ende zu bringen; Hanif röhrt: «Deine Tante Pia wartet! Mein Gott, du wirst schon sehen, ob wir nicht ’ne ganz tolle Zeit miteinander verbringen!" Verschwörerisch senkt er die Stimme: «Jede Menge», sagt er dunkel, «Spaß.» Und Mary: «Arré Baba, ja! Solche Steaks! Und grünes Chutney!» ...
    «Nicht das dunkle», sage ich, endlich in die Falle gegangen, und Erleichterung malt sich auf den Wangen meiner Kidnapper. «Nein nein nein», plappert Mary, «hellgrün, Baba. Genau so, wie du’s gerne magst.» Und: «Hell grün!», grölt Hanif. «Mein Gott, grün wie Grashüpfer!»
    Allzu schnell ... sind wir nun an Kemp’s Corner, Autos schießen wie Kugeln darum herum ... aber eines ist unverändert. Auf seiner Reklametafel grinst das Kolynos-Kind, das ewige Koboldlächeln des Jungen mit der grünen Chlorophyllkappe, das irre Grinsen des zeitlosen Kindes, das endlos eine unerschöpfliche Tube Zahnpasta auf eine hellgrüne Zahnbürste quetscht: Hält Zähne weiß, hält Zähne rein! Glanz kommt mit Kolynos ganz von allein!  ... und Sie mögen auch mich für ein unfreiwilliges Kolynos-Kind halten, das Krisen
und Verwandlungen aus einer Tube ohne Boden quetscht, Zeit auf seine metaphorische Zahnbürste presst, saubere weiße Zeit, gestreift mit grünem Chlorophyll.
    Dies war also der Beginn meines ersten Exils. (Es wird ein zweites und ein drittes geben.) Ich ertrug es, ohne mich zu beklagen. Ich hatte natürlich erraten, dass es eine Frage gab, die ich nie stellen durfte, dass ich wie ein Comic-Heft aus der Leihbücherei in Scandal Point auf unbestimmte Zeit ausgeliehen worden war und dass meine Eltern, wenn sie mich zurückhaben wollten, nach mir schicken würden. Wenn oder sogar falls: denn ich machte mir nicht wenig Vorwürfe wegen meiner Verbannung. Hatte ich mir nicht selbst eine weitere Missbildung beigebracht und zu O-Beinen Gurkennase Schläfenhörnern Wangenflecken hinzugefügt? War es nicht möglich, dass mein verstümmelter Finger in den Augen meiner langmütigen Eltern das Fass zum Überlaufen gebracht hatte (wie es schon beinahe bei der Bekanntmachung meiner Stimmen geschehen wäre)? Dass ich nicht länger ein gesundes geschäftliches Risiko, es nicht länger wert war, dass sie ihre Liebe und ihre Fürsorge investierten? ... Ich beschloss, meinen Onkel und meine Tante dafür zu belohnen, dass sie so freundlich gewesen waren, ein so elendes Geschöpf wie mich aufzunehmen, den vorbildlichen Neffen zu spielen und die Ereignisse abzuwarten. Es gab Zeiten, in denen ich wünschte, das Äffchen würde kommen und mich besuchen oder mich wenigstens einmal anrufen, aber mich mit solchen

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