Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

weit offen, meine Finger krallen sich um den Türrahmen, und nun wirft sich Fat Perce mit seinem ganzen Gewicht gegen die Tür, und sie schließt sich zu schnell, als dass ich meine Hand wegziehen könnte, und zu ist sie. Ein Knall. Und draußen kommt Masha Miovic an und sieht zu Boden und sieht das obere Drittel meines Mittelfingers daliegen wie ein Klümpchen gut durchgekauten Kaugummis. Das war der Augenblick, in dem sie in Ohnmacht fiel.
    Kein Schmerz. Alles weit weg. Fat Perce und Glandy Keith fliehen, um Hilfe zu holen oder um sich zu verstecken. Aus purer Neugierde sehe ich meine Hand an. Mein Finger ist ein Springbrunnen
geworden: Rote Flüssigkeit schießt im Rhythmus meines Herzschlags heraus. Wusste nicht, dass ein Finger so viel Blut enthält. Hübsch. Nun ist die Krankenschwester da, keine Sorge, Schwester. Nur ein Kratzer. Deine Eltern werden telefonisch benachrichtigt; Mr. Crusoe holt seine Autoschlüssel. Die Schwester legt einen großen Wattebausch über den Stumpen. Saugt sich voll wie rote Zuckerwatte. Und nun Crusoe. Steig ins Auto, Saleem, deine Mutter fährt direkt ins Krankenhaus. Ja, Sir. Und das Stück, hat jemand das Stückchen? Ja, Herr Direktor, hier ist es. Danke, Schwester. Wahrscheinlich nutzlos, aber man weiß ja nie. Halt das fest, während ich fahre, Saleem ... und meine abgetrennte Fingerkuppe in der unversehrten linken Hand haltend, werde ich durch die widerhallenden Straßen der Nacht ins Breach-Candy-Krankenhaus gefahren.
    Im Krankenhaus: weiße Wände Bahren alle reden durcheinander. Worte umplätschern mich wie Springbrunnen. «O Gott schütze uns, meine kleine Scheibe-vom-Mond, was haben sie dir angetan?» Darauf der alte Crusoe: «Hm, hm, Mrs. Sinai. Unfälle kommen eben vor. Jungen sind und bleiben Jungen.» Meine Mutter jedoch, zornentbrannt: «Was für eine Schule ist das eigentlich, Mr. Caruso? Ich stehe hier mit dem zerschmetterten Finger meines Sohnes, und Sie kommen mir mit so etwas. Das reicht nicht. Nein, Sir.» Und nun, während Crusoe sagt: «Mein Name lautet eigentlich ... wie Robinson, wissen Sie – he, he», nähert sich der Arzt und stellt eine Frage; die Antwort, die darauf erteilt wird, verändert die Welt.
    «Mrs. Sinai, Ihre Blutgruppe, bitte? Der Junge hat Blut verloren. Vielleicht ist eine Transfusion nötig.» Und Amina: «Ich bin A, aber mein Mann 0.» Und nun bricht sie zusammen und weint, und der Arzt fährt fort: «Aha, in dem Fall wissen Sie vielleicht auch, welche Blutgruppe Ihr Sohn ...» Aber sie, die Arzttochter, muss zugeben, dass sie die Frage, Alpha oder Omega, nicht beantworten kann. «Nun, in dem Fall müssen wir schnell einen Test vornehmen; aber wie steht’s mit dem Rhesusfaktor?» Meine Mutter, unter Tränen:
«Sowohl mein Mann als auch ich – Rhesus-positiv.» Und der Arzt: «Na gut, wenigstens das.»
    Aber als ich mich auf dem Operationstisch befinde –«Bleib einfach da sitzen, Sohn, ich geb’ dir eine örtliche Betäubung, nein, Madam, er steht unter Schock, Vollnarkose wäre unmöglich, schon gut, Sohn, halt bloß deinen Finger hoch und beweg ihn nicht, helfen Sie ihm, Schwester, und es wird im Nu vorbei sein» –, während der Chirurg den Stummel annäht und das Wunder vollbringt, die Nagelwurzeln zu transplantieren, entsteht auf einmal im Hintergrund, eine Million Meilen entfernt, Unruhe, und: «Haben Sie eine Sekunde Zeit, Mrs. Sinai?», und ich kann nicht richtig hören ... Worte treiben aus unendlicher Ferne zu mir her ... Mrs. Sinai, sind Sie sicher? 0 und A? A und 0? Und Rhesus-positiv, Sie alle beide? Heterozygot oder homozygot? Nein, es muss ein Fehler vorliegen, wie kann er nur ... Tut mir Leid, ganz einwandfrei ... negativ ... und weder A noch ... entschuldigen Sie, gnädige Frau, aber ist er wirklich Ihr ... nicht adoptiert oder ... Die Krankenschwester tritt zwischen mich und das Meilen entfernte Geschnatter, aber es nützt nichts, denn nun heult meine Mutter: «Aber selbstverständlich müssen Sie mir glauben, Doktor, mein Gott, selbstverständlich ist er unser Sohn!»
     
    Weder A noch 0. Und der Rhesusfaktor: unwahrscheinlich positiv. Und die Zygotie bietet keinen Hinweis. Und im Blut enthalten: seltene Kell’sche Antikörper. Und meine Mutter weint weint weint weint ... «Ich versteh’s nicht. Bin Arzttochter und verstehe es nicht.» Haben Alpha und Omega mich entlarvt? Deutet der Rhesus mit seinem unwiderlegbaren Finger? Und wird Mary Pereira gezwungen sein ... Ich wache in einem kühlen