Mitternachtskinder: Roman (German Edition)
weißen Zimmer mit Jalousien und in Gesellschaft von All-India Radio auf. Tony Brent singt: «Red Sails In The Sunset».
Ahmed Sinai, mit einem vom Whisky und nun von etwas noch Schlimmerem verheerten Gesicht, steht neben der Jalousie. Amina
redet flüsternd auf ihn ein. Wieder Gesprächsfetzen über eine Entfernung von einer Million Meilen hinweg. Janumbitte. Ichbittedich. Nein, wie kannst du das sagen. Natürlich war es. Natürlich bist du der. Wie konntest du nur denken, ich würde. Wer könnte es. O Gott, steh nicht einfach da und kuck. Ich schwöre, ichschwörebeimkopfmeinermutter. Jetzt pst er ist ...
Ein neues Lied von Tony Brent, dessen Repertoire heute dem von Wee Willie Winkie auf unheimliche Weise ähnlich ist: «How Much Is That Doggie in The Window?», hängt, von Radiowellen getragen, in der Luft. Mein Vater kommt auf mein Bett zu, baut sich vor mir auf, nie zuvor hat er mich so angesehen. «Abba ...» Und er: «Ich hätte es wissen müssen. Sieh doch hin, wo ist etwas von mir in dem Gesicht. Diese Nase, ich hätte...» Er macht auf dem Absatz kehrt und verlässt das Zimmer; meine Mutter folgt ihm, zu aufgewühlt, um auch jetzt noch zu flüstern: «Nein, Janum, ich lass’ nicht zu, dass du so etwas von mir glaubst! Ich bringe mich um! Ich», und die Tür schlägt hinter ihnen zu. Von draußen ertönt ein Geräusch: wie ein Klatschen. Oder ein Schlagen. Das meiste von dem, was für das eigene Leben von Bedeutung ist, findet statt, wenn man nicht da ist.
Tony Brent beginnt schmachtend, seinen neuesten Erfolgsschlager in mein gesundes Ohr zu singen, und versichert mir melodiös, dass die Wolken bald vorbeiziehen werden: «The Clouds Will Soon Roll By».
... Und jetzt habe ich, Saleem Sinai, vor, mein damaliges Ich kurzfristig mit der Gabe der nachträglichen Einsicht auszustatten; ich zerstöre die Einheitlichkeit und die Konventionen schönen Schreibens und lasse es erkennen, was auf es zukam, nur damit ihm erlaubt sei, die folgenden Gedanken zu denken: «O ewiger Gegensatz zwischen Innen und Außen! Denn ein menschliches Wesen ist zumindest alles andere als ein Ganzes, alles andere als homogen; alle Arten von allem Möglichen sind wahllos vermengt in ihm, und es
ist in der einen Minute die eine Person und in der nächsten eine andere. Der Körper andererseits ist so homogen wie nur möglich. Unteilbar, ein einteiliger Anzug, ein geheiligter Tempel, wenn man so will. Dieses Ganze zu bewahren ist wichtig. Der Verlust meines Fingers jedoch (der durch den deutenden Finger von Raleighs Fischer plastisch vorhergesagt wurde), ganz zu schweigen von der Entfernung bestimmter Haupthaare, hat all das zunichte gemacht. So geraten wir in eine Sachlage, die nichts weniger als revolutionär ist, und ihre Auswirkung auf die Geschichte muss zwangsläufig ganz schön entsetzlich sein. Entkorken Sie den Körper, und Gott allein weiß, wem Sie damit gestatten herauszupurzeln. Plötzlich sind Sie für alle Zeiten ein anderer als der, der Sie waren, und die Welt verändert sich, sodass Eltern aufhören, Eltern zu sein, und Liebe sich in Hass verwandelt. Und das, merken Sie sich das, sind nur die Auswirkungen auf das Privatleben. Die Folgen für den Bereich des öffentlichen Handelns sind – waren – werden (wie gezeigt wird) nicht weniger tief reichend sein.»
Nun aber höre ich auf, von meiner Gabe des Vorherwissens Gebrauch zu machen, und lasse Sie endlich mit dem Bild eines zehnjährigen Jungen mit verbundenem Finger zurück, eines Jungen, der in einem Krankenhausbett sitzt und über Blut und klatschende Geräusche und den Ausdruck auf dem Gesicht seines Vaters nachsinnt. Langsam zoome ich ins Tele und lasse den Soundtrack meine Worte übertönen, denn Tony Brent kommt nun zum Ende seines Potpourris, und auch sein Finale lautet wie das von Winkie: «Good Night, Ladys» ist der Titel des Liedes. Fröhlich plätschert es dahin, plätschert dahin, plätschert dahin ...
(Abblende.)
Das Kolynos-Kind
Von Ayah zu Witwe bin ich immer die Sorte Mensch gewesen, dem Dinge angetan werden, doch Saleem Sinai, ewiges Opfer, sieht sich unbeirrt als Protagonist. Ich ignoriere Marys Verbrechen, übergehe Typhus und Schlangengift, setze mich hinweg über zwei Unfälle, einen in der Wäschetruhe und einen in der Manege (bei dem Sonny Ibrahim, Meister im Schlösserknacken, meinen knospenden Schläfenhörnern gestattete, in seine Zangendellen einzudringen, sodass durch diese Kombination die Tür zu den Mitternachtskindern
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