Mitternachtskinder: Roman (German Edition)
schlechter; ganz ohne meine Hilfe eroberte Indien Goa –«den portugiesischen Pickel auf dem Gesicht von Mutter Indien»; ich saß auf den Zuschauerrängen und spielte keine Rolle bei der Erlangung umfangreicher US-Hilfe für Pakistan, und auch für die chinesisch-indischen Grenzscharmützel in der Aksai-Chin-Region von Ladakh konnte man mir keine Vorwürfe machen; die Volkszählung im Jahre 1961 brachte eine Analphabetenrate
von 23,7 Prozent an den Tag, aber ich war in den Registern nicht eingetragen. Das Problem der Unberührbaren blieb weiterhin akut; ich tat nichts, es zu lindern; und bei den Wahlen von 1962 gewann der Allindische Kongress 361 von 494 Sitzen in der Lok Sabha und über 61 Prozent aller Sitze im Landesparlament. Nicht einmal dabei konnte man sagen, dass meine unsichtbare Hand sich gerührt habe, außer vielleicht metaphorisch: Der Status quo in Indien blieb erhalten, und in meinem Leben änderte sich auch nichts.
Dann, am 1. September 1962, feierten wir den vierzehnten Geburtstag des Äffchens. Mittlerweile wurden wir (trotz der anhaltenden Zuneigung meines Onkels zu mir) von allen als sozial Tieferstehende, als die glücklosen armen Verwandten der großen Zulfikars betrachtet; die Feier war also eine schäbige Angelegenheit. Das Äffchen jedoch vergnügte sich allem Anschein nach. «Es ist meine Pflicht, Bruder», sagte sie zu mir. Ich traute meinen Ohren kaum ... aber vielleicht ahnte meine Schwester, wie ihr Schicksal verlaufen würde, vielleicht wusste sie, welche Verwandlung sie erwartete; warum soll ich annehmen, dass ich allein die Gabe geheimen Wissens hatte?
Vielleicht erriet sie dann auch, dass Emerald Zulfikar, sobald die engagierten Musiker zu spielen begannen (Shehnai und Vina waren da, Sarangi und Sarod kamen an die Reihe, Tabla und Sitar vollführten ihre virtuosen Kreuzverhöre), mit herzloser Eleganz auf sie zukommen und verlangen würde: «Komm schon, Jamila, sitz nicht da wie eine Melone, sing uns ein Lied, sei ein braves Mädchen!»
Und dass meine smaragdeisige Tante mit diesem Satz unabsichtlich die Verwandlung meiner Schwester vom Äffchen zur Sängerin in die Wege leiten würde; denn obwohl sie mit der mürrischen Unbeholfenheit einer Vierzehnjährigen protestierte, wurde sie von meiner organisierenden Tante ohne Umschweife auf das Podium gezerrt; und obwohl sie aussah, als wünschte sie, dass sich der Fußboden unter ihren Füßen auftue, faltete sie die Hände; da sie keinen Ausweg sah, begann das Äffchen zu singen.
Ich bin, glaube ich, nicht gut im Beschreiben von Gefühlen ... ich bin aber überzeugt, dass meine Leserschaft in der Lage ist, mitzumachen, sich selbst vorzustellen, was ich nicht habe verdeutlichen können, sodass meine Geschichte auch die Ihrige wird ... doch als meine Schwester zu singen begann, wurde ich, das ist gewiss, von einem Gefühl ergriffen, das so machtvoll war, dass ich es nicht begreifen konnte, bis es mir viel später von der ältesten Hure der Welt erklärt wurde. Denn mit der ersten Note legte das Messingäffchen ihren Spitznamen ab; sie, die mit Vögeln geredet hatte (so wie vor langer Zeit in einem Bergtal ihr Urgroßvater), musste die Kunst des Gesangs von Singvögeln erlernt haben. Mit einem guten Ohr und einem schlechten hörte ich ihrer makellosen Stimme zu, die nicht die einer Vierzehnjährigen, sondern bereits die einer erwachsenen Frau war, erfüllt von der Reinheit des Flügelschlags und dem Schmerz des Exils und dem Flug des Adlers und der Lieblosigkeit des Lebens und der Melodie von Bülbüls und der glorreichen Allgegenwärtigkeit Gottes; eine Stimme, die später mit der von Mohammeds Muezzin Bilal verglichen wurde und die von den Lippen eines recht mageren jungen Mädchens kam.
Was ich nicht verstand, muss noch warten, bis es erzählt wird; lassen Sie mich hier festhalten, dass meine Schwester auf der Feier zu ihrem vierzehnten Geburtstag zu ihrem Namen kam und danach als Jamila die Sängerin bekannt war und dass ich begriff, als ich zuhörte, wie sie «Meine Dupatta aus rotem Muslin» und «Shahbaz Qalandar» sang, dass der Prozess, der in meinem ersten Exil begonnen hatte, sich im zweiten der Vollendung näherte: dass von nun an Jamila das Kind war, das zählte, und dass ich hinter ihrem Talent immer zurückstehen müsste.
Jamila sang – ich neigte demütig den Kopf. Aber ehe sie ganz in ihr Königreich eingehen konnte, musste noch etwas anderes geschehen: Ich musste richtig fertig gemacht werden.
Dränage und
Weitere Kostenlose Bücher