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Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Titel: Mitternachtskinder: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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Ayooba bereits als Führer und als Helden erkoren hatte, rief: «Was können wir schon machen? Bei den Beziehungen, die die Familie von diesem Kerl hat, müssen ein paar hohe Tiere dem Stabsoffizier befohlen haben, sich mit ihm abzufinden. So sieht’s aus.»
    Und ich unterstelle (obwohl keiner von dem Trio in der Lage gewesen wäre, diesen Gedanken auszudrücken), dass im tiefsten Grunde ihres Unbehagens die Furcht vor Schizophrenie, vor Spaltung, lag, die wie eine Nabelschnur in jedem pakistanischen Herzen vergraben lag. In jenen Tagen waren der Ost- und der Westflügel des Landes durch die unüberbrückbare Landmasse Indiens getrennt, aber auch Vergangenheit und Gegenwart sind durch eine unüberbrückbare Kluft voneinander geschieden. Religion war der Klebstoff Pakistans, sie hielt die Hälften zusammen, genauso wie das Bewusstsein, die Bewusstheit seiner selbst als homogener Einheit in der Zeit, einer Mischung von Vergangenheit und Gegenwart, der Klebstoff der Persönlichkeit ist, der unser Damals und unser Jetzt zusammenhält. Genug des Philosophierens: Was ich sage, ist, dass der Buddha durch Aufgabe des Bewusstseins und Lossagung von der Geschichte das denkbar schlechteste Beispiel lieferte - und dem Beispiel folgte kein Geringerer als Scheich Mujib, als er den Ostflügel in die Sezession führte und ihn unter dem Namen «Bangladesch» für unabhängig erklärte! Ja, Ayooba Shaheed Farooq
fühlten sich mit Recht unbehagfich – denn selbst zu jener Zeit, als ich mich jeglicher Verantwortung entzogen hatte, blieb ich durch das Wirken der metaphorischen Verknüpfungsmodi für die kriegerischen Auseinandersetzungen des Jahres 1971 verantwortlich.
    Aber ich muss zu meinen neuen Kameraden zurückkehren, damit ich den Vorfall bei den Latrinen wiedergeben kann: Da waren Ayooba, panzergleich, der die Einheit führte, und Farooq, der es zufrieden war, ihm zu folgen. Der dritte Junge jedoch war ein eher düsterer, mehr verschlossener Typ und stand folglich meinem Herzen am nächsten. An seinem fünfzehnten Geburtstag hatte Shaheed Dar ein falsches Alter angegeben und sich zur Armee gemeldet. An jenem Tag hatte sein Vater, ein Halbpächter aus dem Pandschab, Shaheed mit aufs Feld genommen und seine neue Uniform nass geweint. Der alte Dar erklärte seinem Sohn die Bedeutung seines Namens, das ist «Märtyrer», und gab der Hoffnung Ausdruck, er werde sich dieses Namens würdig erweisen und vielleicht das erste Familienmitglied werden, das in den Kampfergarten käme und diese erbärmliche Welt zurückließe, in der ein Vater niemals darauf hoffen konnte, seine Schulden zu bezahlen und gleichzeitig seine neunzehn Kinder zu ernähren. Die erdrückende Hypothek eines Namens und das damit verbundene bevorstehende Märtyrertum begannen gewaltig auf Shaheed zu lasten; in seinen Träumen fing er an, seinen Tod zu sehen, der die Form eines leuchtenden Granatapfels annahm und mitten in der Luft hinter ihm herschwebte, ihm überallhin folgte und abwartete, bis seine Zeit gekommen war. Die verwirrende und auch etwas unheroische Vision eines Granatapfeltodes machte Shaheed zu einem in sich gekehrten Burschen, der niemals lächelte.
    In sich gekehrt, ohne jemals zu lächeln, beobachtete Shaheed, wie verschiedene HESPNAT-Einheiten aus dem Lager in den Kampf geschickt wurden, und gelangte zu der Überzeugung, dass seine Zeit und die Zeit des Granatapfels nahten. Er sah, wie Einheiten, bestehend aus drei Mann und einem Hund, in Jeeps abfuhren, die
mit Tarnfarbe gestrichen waren, und schloss daraus auf eine eskalierende politische Krise; es war Februar, und die Verärgerung der Erhabenen wurde täglich deutlicher. Ayooba-der-Panzer jedoch behielt eine örtlich gebundene Sicht der Dinge bei. Seine Verärgerung nahm ebenfalls zu, doch ihr Gegenstand war der Buddha.
    Ayooba hatte sich in das einzige weibliche Wesen im Lager vernarrt, eine magere Latrinenreinigerin, die nicht älter als vierzehn sein konnte und deren Brustwarzen gerade erst begannen, sich auf ihrem zerlumpten Hemd abzuzeichnen: ein niedriges Wesen, sicherlich, aber sie war alles, was da war, und für eine Latrinenreinigerin hatte sie sehr hübsche Zähne und eine gefällige Art, flotte Blicke über die Schulter zu werfen ... Ayooba begann ihr nachzulaufen, und so erspähte er sie, als sie in die strohgedeckte Hütte des Buddhas ging, und deshalb lehnte er ein Fahrrad gegen die Bude und stellte sich auf den Sattel, und deshalb fiel er herunter, denn was er sah, gefiel ihm

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