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Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Titel: Mitternachtskinder: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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ihrer Bitten: «Es ist kalt – du wirst krank ... », einen Straßenanzug und den Mantel an, unter dem der mysteriöse graue Beutel einen lächerlich auffälligen Höcker bildete. So sagte sie schließlich: «Zieh dich warm an», und entließ ihn, wohin er auch ging, mit der Frage: «Wird es spät?» Worauf er antwortete: «Ja, ganz bestimmt.» Fünf Minuten nach seinem Weggang machte Amina Sinai sich auf zum Roten Fort, ins Herz ihres Abenteuers.
     
    Eine Reise begann an einem Fort, eine andere sollte an einem Fort geendet haben und endete anderswo. Die eine sagte die Zukunft voraus, die andere bestimmte ihren geographischen Schauplatz. Während einer Reise gab es unterhaltsam tanzende Affen, an dem anderen Ort tanzte auch ein Affe, aber mit verheerendem Ergebnis. Bei beiden Abenteuern spielten Geier eine Rolle. Und vielköpfige Ungeheuer lauerten am Ende beider Wege.
    Eins nach dem anderen also ... und hier ist Amina Sinai unter den hohen Mauern des Roten Forts, wo Moguln herrschten und von dessen Höhe die neue Nation verkündet werden wird ... obwohl weder Monarch noch Herold, wird meine Mutter (trotz des Wetters) mit Wärme begrüßt. Im letzten Licht des Tages ruft Lifafa Das: «Begum Sahiba! Ausgezeichnet, dass Sie gekommen sind!» Dunkelhäutig und angetan mit einem weißen Sari, winkt sie ihn zum Taxi; er greift nach der hinteren Tür, aber der Fahrer schnauzt ihn an: «Was glaubst du eigentlich? Was glaubst du denn, wer du bist? Komm schon, mach schon, steig vorne ein, aber ein bisschen plötzlich, lass die Dame im Fond sitzen!» So teilt Amina ihren Sitz mit einem schwarzen Guckkasten auf Rädern, während Lifafa Das sich entschuldigt: «Tut mir Leid, Begum Sahiba. Gute Vorsätze sind keine Beleidigung.»
    Aber hier – es kann nicht abwarten, bis es an der Reihe ist – ist noch ein Taxi, das vor einem anderen Fort hält und seine Fracht
auslädt, drei Männer in Straßenanzügen, von denen jeder einen sperrigen grauen Beutel unter dem Mantel trägt ... ein Mann, so lang wie ein Leben und dünn wie eine Lüge, ein zweiter, der kein Rückgrat zu haben scheint, und ein dritter, dessen Unterlippe vorsteht, dessen Bauch zur Schwammigkeit neigt, dessen Haar ausdünnt und fettet und sich über den Ohren kringelt und zwischen dessen Augenbrauen die verräterische Falte ist, die sich mit dem Alter zur Narbe eines verbitterten zornigen Mannes vertiefen wird. Der Taxifahrer ist trotz des Wetters überschwänglich. «Purana Qila!», ruft er aus. «Alles aussteigen, bitte! Altes Fort, hier sind wir!» ... Es hat viele, viele Delhis gegeben, und das Alte Fort, diese geschwärzte Ruine, ist ein so uraltes Delhi, dass unsere Altstadt neben ihm ein reines Wickelkind ist. Zu dieser Ruine aus undenkbar alten Zeiten sind Kemal, Butt und Ahmed Sinai durch einen anonymen Telefonanruf geschickt worden, der befahl: «Heute. Altes Fort. Direkt nach Sonnenuntergang. Aber keine Polizei ... sonst Godown funtoosh!» Ihre grauen Beutel umklammernd, dringen sie in die uralte zerfallende Welt ein.
    ... Ihre Handtasche umklammernd, sitzt meine Mutter neben einem Guckkasten, während Lifafa Das vorne neben dem verwirrten, jähzornigen Fahrer sitzt und das Taxi in die Straßen auf der falschen Seite vom Hauptpostamt dirigiert, und als sie durch diese Gassen fährt, an deren Asphalt die Armut frisst wie eine Dürre, wo die Menschen ihr unsichtbares Leben führen (denn sie teilen Lifafa Das’ Fluch der Unsichtbarkeit, und nicht alle haben ein schönes Lächeln), beginnt etwas Neues sie zu bestürmen. Unter dem Druck dieser Straßen, die mit jeder Minute schmaler werden, mit jedem Zentimeter überfüllter, hat sie ihre «Stadtaugen» verloren. Wenn man Stadtaugen hat, kann man die unsichtbaren Menschen, die Männer mit den von Elefantiasis befallenen Eiern nicht sehen, und die Bettler in den Kistenwagen rempeln einen nicht an, und die einzelnen betongegossenen Stücke zukünftiger Abflussrohre sehen nicht wie Schlafsäle aus. Meine Mutter verlor ihre Stadtaugen,
und die Neuheit dessen, was sie sah, ließ sie erröten, die Neuheit prasselte wie ein Hagelsturm auf ihre Haut. Sieh nur, mein Gott, diese schönen Kinder haben schwarze Zähne! Ist es denn die Möglichkeit ... kleine Mädchen, die ihre Brustwarzen entblößen! Wie schrecklich, wirklich! Und, Allah-tobah, Gott behüte, Straßenkehrerinnen mit – nein! wie grauenhaft! – verkrüppeltem Rückgrat und Reisigbündeln und ohne Kastenzeichen; Unberührbare, guter

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