Mitternachtskinder: Roman (German Edition)
führen Sie mich zu Ihrem Vetter.»
«Ich werde jeden Tag warten»; er legte die Hände aneinander und war weg.
Zohra war so überwältigt, dass sie, als Ahmed Sinai nach Hause kam, nur den Kopf schütteln und sagen konnte: «Ihr Jungvermählten, verrückt wie die Eulen; ich muss euch euch selbst überlassen!»
Musa, der alte Hausdiener, hielt auch den Mund. Er hielt sich im Hintergrund unseres Lebens, immer, bis auf zweimal ... einmal, als er uns verließ; einmal, als er zurückkehrte, um die Welt durch Zufall zu zerstören.
Vielköpfige Ungeheuer
Es sei denn, natürlich, so etwas wie Zufall gäbe es nicht. Dann wäre Musa – trotz seines Alters und seiner Unterwürfigkeit – nichts Geringeres als eine Zeitbombe, die leise bis zu ihrer vorherbestimmten Zeit abliefe; dann sollten wir entweder – optimistisch – aufstehen und jubeln, denn wenn alles vorhergeplant ist, dann haben wir alle einen Sinn, und der Schrecken, uns als Zufallsprodukte ohne warum zu erkennen, bleibt uns erspart; oder wir könnten – pessimistisch – natürlich auf der Stelle aufgeben, da wir die Sinnlosigkeit von Gedanke Entscheidung Handlung einsehen, weil sowieso nichts, was wir denken, von Belang ist; alles wird sein, wie es sein wird. Wo liegt dann der Optimismus? Im Schicksal oder im Chaos? War mein Vater opti- oder pessimistisch, als meine Mutter ihm ihre Neuigkeit mitteilte (nachdem jeder in der Nachbarschaft sie schon gehört hatte) und er antwortete: «Ich habe es dir ja gesagt; es war nur eine Frage der Zeit»? Die Schwangerschaft meiner Mutter, scheint es, war vom Schicksal bestimmt; meine Geburt jedoch verdankte viel dem Zufall.
«Es war nur eine Frage der Zeit», sagte mein Vater mit allen Zeichen von Freude; doch die Zeit war meiner Erfahrung nach schon immer eine unsichere Sache und nichts, auf was man sich verlassen konnte. Sie konnte sogar geteilt werden: Die Uhren in Pakistan eilten ihren indischen Gegenstücken eine halbe Stunde voraus ... Herr Kemal, der mit der Teilung nichts zu tun haben wollte, sagte gern: «Hier liegt der Beweis für die Idiotie ihres Plans. Diese Liga-Leute planen, sich mit ganzen dreißig Minuten zu absentieren! Zeit-ohne-Teilung», rief Herr Kemal aus, «das ist die Lösung!» Und S. P. Butt sagte: «Wenn sie die Zeit einfach so
verändern können, was ist dann noch wirklich, frage ich Sie? Was ist wahr?»
Es sieht aus, als sei das ein Tag für große Fragen. Über die unzuverlässigen Jahre hinweg antworte ich S. P. Butt, dem in den Teilungskrawallen die Kehle durchgeschnitten wurde und der daraufhin das Interesse an der Zeit verlor: «Wahrheit und Wirklichkeit sind nicht unbedingt dasselbe.» Wahrheit war für mich seit meiner frühesten Kindheit etwas, was in den Geschichten verborgen war, die Mary Pereira mir erzählte: Mary, meine Ayah, die gleichzeitig mehr und weniger war als eine Mutter; Mary, die alles über uns wusste. Wahrheit war etwas, was direkt hinter dem Horizont verborgen war, auf den in dem Bild an meiner Wand der Finger des Fischers deutete, während der Knabe Raleigh seinen Erzählungen lauschte. Während ich dies nun im Lichtkegel meiner Schwenklampe schreibe, messe ich die Wahrheit an diesen frühen Dingen: Hätte Mary sie so erzählt, frage ich? Hätte der Fischer das gesagt? ... Und nach diesen Maßstäben ist es unanfechtbar wahr, dass meine Mutter an einem Tag im Januar 1947, sechs Monate bevor ich auftauchte, alles über mich erfuhr, während mein Vater mit einem Dämonenkönig aneinander geriet. Amina Sinai wartete auf einen geeigneten Augenblick, um Lifafa Das’ Angebot anzunehmen; aber nachdem die India-Rad-Fabrik abgebrannt war, blieb Ahmed Sinai zwei Tage lang zu Hause und besuchte sein Büro am Connaught Place kein einziges Mal, als stähle er sich für eine unangenehme Begegnung. Zwei Tage lang blieb der angeblich geheime graue Geldbeutel an seinem Platz unter seiner Seite des Betts. Mein Vater zeigte kein Verlangen, über die Gründe für die Anwesenheit des grauen Beutels zu reden, also sagte Amina zu sich: «Und wenn schon, was macht’s?» Denn auch sie hatte ihr Geheimnis, das geduldig an den Toren zum Roten Fort oberhalb des Chandni Chowk auf sie wartete. Insgeheim schmollend, behielt meine Mutter Lifafa Das für sich. «Wenn und bis er dir nicht erzählt, was er im Sinn hat, warum sollte ich ihm das erzählen?», argumentierte sie.
Und eines kalten Januarabends dann sagte Ahmed Sinai: «Ich muss heute Abend ausgehen», und zog trotz
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