Mitternachtskinder: Roman (German Edition)
Gott! ... und überall Krüppel, verstümmelt von liebenden Eltern, die ihnen ein lebenslängliches Einkommen aus Bettelei sichern wollten ... ja, Bettler in Kistenwagen, erwachsene Männer mit Beinen wie Kleinkinder in Kisten auf Rädern, hergestellt aus weggeworfenen Rollern und alten Mangokisten; meine Mutter schreit auf: «Lifafa Das, kehren Sie um!» Aber er lächelt sein schönes Lächeln und sagt: «Von hier an müssen wir zu Fuß gehen.» Als sie sieht, dass es kein Zurück gibt, befiehlt sie dem Taxi zu warten, und der schlecht gelaunte Fahrer sagt: «Ja natürlich, was bleibt einem bei einer großen feinen Dame anderes übrig, als zu warten, und wenn Sie zurückkommen, muss ich die ganze Strecke bis zur Hauptstraße rückwärts fahren, weil hier kein Platz zum Wenden ist!» Kinder zerren am Saum ihres Saris, überall starren Köpfe meine Mutter an, die denkt: Es ist, als wäre man von einem schrecklichen Ungeheuer, einer Kreatur mit Köpfen und Köpfen und Köpfen, umgeben; doch sie verbessert sich: Nein, natürlich kein Ungeheuer, diese armen, armen Leute – was denn dann? Irgendeine Macht, eine Kraft, die ihre Stärke nicht kennt, die vielleicht zur Hinfälligkeit verkommen ist, weil sie nie angewandt wurde ... Nein, dies sind trotz allem keine verkommenen Menschen. «Ich habe Angst», bei dem Gedanken ertappt sich meine Mutter, gerade als eine Hand sie am Arm berührt. Sie dreht sich um und sieht sich dem Gesicht eines – unmöglich! – weißen Mannes gegenüber, der eine zerlumpte Hand ausstreckt und wie in einem mit hoher Stimme gesungenen ausländischen Lied sagt: «Geben Sie etwas, Begum Sahiba ...», und das wie eine hängen gebliebene Schallplatte wiederholt, während sie peinlich
berührt in ein weißes Gesicht mit langen Wimpern und geschwungener Patriziernase blickt – peinlich berührt, weil er weiß war, und Betteln war nichts für Weiße. «... die ganze Strecke von Kalkutta, zu Fuß», sagte er, «und mit Asche bestreut, wie Sie sehen, Begum Sahiba, weil ich mich schäme, bei den Morden dabei gewesen zu sein – letzten August, Sie erinnern sich, Begum Sahiba, Tausende in vier Tagen der Schmerzensschreie abgeschlachtet ...» Lifafa Das steht hilflos dabei, weil er nicht weiß, wie er sich einem Weißen gegenüber verhalten soll, selbst wenn es nur ein Bettler ist. «... Haben Sie von dem Europäer gehört?», fragt der Bettler. «... Ja, mit den Mördern, Begum Sahiba, ging er nachts durch die Stadt mit Blut auf dem Hemd, ein Weißer, außer sich wegen des bevorstehenden Niedergangs seiner Art; haben Sie von ihm gehört?» ... Und nun eine Pause in diesem verblüffenden Lied einer Stimme, und dann: «Er war mein Mann.» Erst da sah meine Mutter die unter Lumpen zusammengepressten Brüste ... «Geben Sie etwas für meine Scham.» Er zieht an ihrem Ärmel. Lifafa Das zieht an dem anderen und flüstert: «Hijra, Transvestit, kommen Sie, Begum Sahiba»; und Amina steht still, während sie in entgegengesetzte Richtungen gezerrt wird, und will sagen: Warte, weiße Frau, lass mich nur meine Besorgung erledigen, dann nehme ich dich mit nach Hause, geb’ dir zu essen, kleide dich ein und schicke dich in deine Welt zurück; aber gerade da zuckt die weiße Frau die Schultern und geht mit leeren Händen die schmaler werdende Straße hinunter, schrumpft auf einen Punkt zusammen, bis sie – jetzt! – in der entfernten Schäbigkeit der Gasse verschwindet. Und nun sagt Lifafa Das mit einem seltsamen Ausdruck auf dem Gesicht: «Sie sind funtoosh! Total erledigt! Bald gehen sie alle, und dann können wir uns gegenseitig umbringen.» Mit leichter Hand berührt sie ihren Bauch und folgt ihm in einen dunklen Hauseingang, während ihr Gesicht in Flammen ausbricht.
... Während Ahmed Sinai am Alten Fort auf Ravana wartet. Mein Vater bei Sonnenuntergang: Er steht im dunklen Eingang
zu dem, was einst ein Raum in den zerstörten Mauern des Forts war, seine Unterlippe steht fleischig vor, die Hände sind hinter dem Rücken verschränkt, der Kopf steckt voller Geldsorgen. Er war nie ein glücklicher Mann. Er roch leicht nach zukünftigem Versagen; er behandelte Dienstboten schlecht; vielleicht wünschte er, dass er, anstatt das Kunstledergeschäft seines verstorbenen Vaters zu übernehmen, die Kraft gehabt hätte, seinen ursprünglichen Plan – die Neuordnung des Korans in genauer chronologischer Reihenfolge – zu verfolgen. (Er erzählte mir einmal: «Als Mohammed seine Prophezeiungen machte,
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