Mitternachtskinder: Roman (German Edition)
schrieben die Leute, was er sagte, auf Palmblättern auf, die in irgendeinem uralten Kasten aufbewahrt wurden. Nach seinem Tod versuchten Abu Bakr und die anderen, sich an die korrekte Reihenfolge zu erinnern, aber sie hatten kein sehr gutes Gedächtnis.» Und eine weitere falsche Abzweigung: Anstatt ein heiliges Buch neu zu schreiben, lauerte mein Vater in einer Ruine und wartete auf Dämonen. Kein Wunder, dass er nicht glücklich war; und ich sollte ihm keine Hilfe sein. Als ich geboren wurde, brach ich seinen großen Zeh.) ... Mein unglücklicher Vater, wiederhole ich, denkt schlecht gelaunt über Bargeld nach. Über seine Frau, die ihm Rupien abschmeichelt und ihm nachts die Taschen ausräumt. Und seine Exfrau (die schließlich bei einem Unfall starb, als sie mit dem Führer eines Kamelkarrens stritt und von dem Kamel in den Hals gebissen wurde), die ihm endlose Bittbriefe schreibt, trotz des Scheidungsabkommens. Und über seine entfernte Cousine Zohra, die Geld für ihre Mitgift von ihm braucht, damit sie Kinder aufziehen kann, die seine heiraten sollen, und sie so ihre Fänge noch tiefer in sein Vermögen graben kann. Und dann gibt es noch Major Zulfikars Geldversprechungen. (Zu jener Zeit verstanden Major Zulfi und mein Vater sich sehr gut.) Der Major hatte Briefe geschrieben, in denen er sagte: «Du musst dich für Pakistan entscheiden, wenn es so weit ist, und mit Sicherheit wird es irgendwann so weit sein. Es ist mit Gewissheit eine Goldmine für Männer wie uns. Bitte, lass mich dich M.A.J. persönlich vorstellen ...»
Aber Ahmed Sinai misstraute Muhammad Ali Jinnah und nahm Zulfis Angebot nie an; als Jinnah Präsident von Pakistan wurde, gab es also eine weitere falsche Abzweigung, über die er nachdenken musste. Und schließlich gab es Briefe von dem alten Freund meines Vaters, dem Gynäkologen Dr. Narlikar in Bombay. «Die Briten ziehen in Scharen weg, Sinai Bhai. Grundbesitz ist spottbillig! Verkaufe alles, komm her, kaufe, verbring den Rest deines Lebens in Luxus!» Koranverse hatten in einem Kopf so voller Geld keinen Platz ... und unterdessen ist er hier zusammen mit S. P. Butt, der in einem Zug nach Pakistan sterben wird, und Mustapha Kemal, der in seinem prächtigen Haus an der Flagstaff Road von Goondas ermordet werden wird und auf dessen Brust mit seinem eigenen Blut die Worte «blutschänderischer Hamsterer» geschrieben werden ... zusammen mit diesen beiden dem Untergang geweihten Männern wartet er im unerforschlichen Schatten einer Ruine, um einen Erpresser auszuspähen, der sein Geld abholt. «Südwestliche Ecke», hieß es in dem Telefonanruf, «Türmchen. Innerer steinerner Treppenaufgang. Hochsteigen. Oberster Treppenabsatz. Geld dort lassen. Gehen. Verstanden?» Den Anordnungen zuwider verstecken sie sich in dem Ruinenraum; irgendwo über ihnen, auf dem obersten Treppenabsatz des Türmchens, warten drei graue Beutel in der dichter werdenden Dunkelheit.
... In der dichter werdenden Dunkelheit eines unbelüfteten Treppenhausschachtes steigt Amina Sinai einer Prophezeiung entgegen. Lifafa Das spricht ihr Mut zu, denn nun, da sie sich per Taxi in die enge Flasche seiner Barmherzigkeit begeben hat, spürt er eine Veränderung in ihr, ein Bedauern über ihren Entschluss; er ermuntert sie beim Aufstieg. Der finstere Treppenhausschacht ist voller Augen; Augen, die beim Anblick der hochsteigenden schwarzen Dame durch die Türlatten funkeln, Augen, die sie wie helle raue Katzenzungen aufschlecken; und während Lifafa beschwichtigend redet, spürt meine Mutter, wie ihr Wille schwindet. Was sein wird, wird sein, ihre Willenskraft und Weltbeherrschung entrinnen ihr in den
dunklen Schwamm der Treppenhausluft. Schleppend folgen ihre Füße den seinen, hinauf in die oberen Bereiche der riesigen, deprimierenden, heruntergekommenen Mietskaserne, in der Lifafa Das und seine Vettern eine kleine Ecke ganz oben haben ... hier, kurz vor dem obersten Stockwerk, sieht sie trübes Licht auf die Köpfe Schlange stehender Krüppel durchsickern. «Mein Vetter Numero zwei», sagt Lifafa Das, «richtet Knochen.» Sie klettert vorbei an Männern mit gebrochenen Armen, Frauen mit Füßen, die in unmöglichen Winkeln nach hinten verrenkt sind, vorbei an gestürzten Fensterputzern und Maurern mit Splitterbrüchen; eine Arzttochter, die eine Welt, älter als die der Spritzen und Krankenhäuser, betritt; bis Lifafa Das schließlich sagt: «Hier sind wir, Begum», und sie durch ein Zimmer führt, in dem der
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