Mitternachtskinder: Roman (German Edition)
Schaum vor dem Mund? Was war damit? Und stimmte es, dass meine Mutter unter dem erschütternden Einfluss dieses hysterischen Abends ihr gewohntes Ich fahren ließ – bereits zuvor hatte sie gespürt, wie es ihr in den alles aufschluckenden Schwamm der lichtlosen Luft im Treppenhausschacht entrann – und in einen Geisteszustand gelangte, in dem alles geschehen konnte und alles geglaubt werden konnte? Und es gibt auch
noch eine weitaus schrecklichere Möglichkeit, aber bevor ich meinen Verdacht äußere, muss ich trotz dieses filmartigen Vorhangs aus Doppeldeutigkeiten so genau wie möglich beschreiben, was wirklich geschah: Ich muss meine Mutter beschreiben, ihre Handflächen nach oben dem näher kommenden Handleser zugeneigt, ihre Augen groß und starr, wie die eines Pomfret – und die Vettern (kichernd?):«Was für eine Deutung Sie bekommen werden, Sahiba!» und: «Sprich, Vetterchen, sprich!» – aber der Vorhang fällt wieder, deshalb kann ich mir nicht sicher sein. Begann er wie ein billiger Zirkusgaukler und ging die banale Abfolge von Lebenslinie, Herzlinie und Kindern, die Multimillionäre würden, durch, während die Vettern «wah, wah!» und «absolute Meisterdeutung, Yara!» jubelten? Und dann, veränderte er sich dann? – wurde Ramram steif – rollten seine Augen nach oben, bis sie weiß wie Eier waren – fragte er in einer Stimme, fremd wie ein Spiegel: «Sie erlauben, Madam, dass ich die Stelle berühre?», während die Vettern stumm wie schlafende Geier wurden? Und antwortete meine Mutter genauso fremd: «Ja, ich erlaube es», sodass der Seher, abgesehen von den Mitgliedern ihrer Familie, erst der dritte Mann in ihrem Leben war, der sie berührte? Und geschah es dann, in diesem Augenblick, dass ein kurzer starker Stromstoß zwischen plumpen Fingern und mütterlicher Haut zuckte? Und meine Mutter, verschreckt wie ein Kaninchen, sah dem Propheten im karierten Hemd zu, dessen Augen in dem weichen Gesicht immer noch Eiern glichen und der sich zu drehen begann; und plötzlich durchlief ihn ein Schauer, und er hatte wieder diese fremde hohe Stimme, als von seinen Lippen (diese Lippen muss ich auch beschreiben – aber später, denn nun ...) die Worte kamen: «Ein Sohn.»
Vettern schwiegen – angeleinte Affen hörten auf zu schnattern – Kobras rollten sich in Körben zusammen – und der Wahrsager drehte sich im Kreis und spürte, wie aus seinem Munde die Geschichte sprach. (War es so?) Er begann: «Ein Sohn ... solch ein Sohn!» Und dann kommt es: «Ein Sohn, Sahiba, der nie älter
sein wird als sein Vaterland – weder älter noch jünger.» Und nun macht sich bei Schlangenbeschwörer Mungotänzer Knochenrichter Guckkastenmann richtige Angst breit, denn nie haben sie Ramram so gehört, wie er nun fortfährt, in einem hochgeschraubten Singsang: «Es wird zwei Köpfe geben – aber du wirst nur einen sehen –, es wird Knie und eine Nase, eine Nase und Knie geben.» Nase und Knie und Knie und Nase ... pass gut auf, Padma; der Kerl hat sich in nichts geirrt! «Schlagzeilen ehren ihn, zwei Mütter nähren ihn! Radfahrer kosen ihn – Volksmassen stoßen ihn! Schwestern trauern, Kobras lauern ...» Ramram dreht sich immer schneller, während vier Vettern murmeln: «Was ist das, Baba?» und «Deo, Schiwa, schütze uns!» Ramram unterdessen: «Wäsche wird ihn den Blicken entzieh’n – Stimmen werden ihn des Weges führ’n. Freunde verstümmeln ihn – Blut hintergeht ihn!» Und Amina Sinai:«Was meint er? Ich verstehe nicht – Lifafa Das, was ist in ihn gefahren?» Doch unerbittlich, eiäugig um ihre statuenstarre Gestalt wirbelnd, fährt Ramram Seth fort: «Ein Spucknapf wird ihn köpfen – ein Doktor wird ihn schröpfen – der Dschungel kettet ihn – Zauberer retten ihn! Soldaten plagen ihn – Tyrannen braten ihn ...» Während Amina um Erklärungen bittet und die Vettern sich vor hilflosem Schrecken in händeflatternde Aufregung steigern, weil irgendetwas übermächtig geworden ist, traut sich niemand, Ramram Seth anzurühren, als er zum Höhepunkt wirbelt: «Er wird Söhne haben, ohne Söhne zu haben! Er wird alt sein, ehe er alt ist! Und er wird sterben ... ehe er tot ist. »
Ist es so gewesen? War es in diesem Augenblick, dass Ramram Seth, ausgelaugt, weil eine größere Macht als die seine in ihn eingegangen war, plötzlich zu Boden fiel und ihm der Schaum vorm Mund stand? Wurde der Stock des Mungomanns zwischen seine klappernden Zähne geschoben? Sagte
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