Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Titel: Mitternachtskinder: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
Vom Netzwerk:
Ton äußerster Gewissheit in ihrer Stimme.
    «Siehst du, Janum?», verkündete Amina. «Das werde ich sein.»
    Vor ihren Augen stieg eine Vision von fett gedruckten Schlagzeilen auf, die erklärten: «Baby Sinai – das Kind dieser glorreichen Stunde – in einer entzückenden Pose» – eine Vision von eins a erstklassigen riesengroßen Babyschnappschüssen für die Titelseite; aber Ahmed begann zu erörtern: «Denk nur einmal an all das, was dagegen spricht, Begum.» Bis sie ihren Mund schließlich vor Starrsinn wie einen Schraubstock zusammenpresste und immer wieder sagte: «Komm mir nicht mit Wenn und Aber; ich werd’s schon werden; ich weiß es einfach ganz sicher. Frag mich nicht, wie.»
    Und obwohl Ahmed die Prophezeiung seiner Frau William Methwold gegenüber als Scherz für die Cocktailstunde wiederholte, ließ Amina sich nicht erschüttern, selbst als Methwold lachte. «Weibliche Intuition – hervorragende Sache, Mrs. S.! Aber im Ernst, Sie können doch kaum erwarten, dass wir ...» Selbst unter dem unwirschen Blick ihrer Nachbarin Nussie-die-Ente, die auch schwanger war und auch die Times of India gelesen hatte, blieb Amina ihrer Sache treu, denn Ramrams Vorhersage war ihr tief ins Herz gedrungen.
    Um die Wahrheit zu sagen: Amina hatte mit fortschreitender Schwangerschaft die Worte des Wahrsagers immer schwerer auf ihre Schultern, ihren Kopf, ihren schwellenden Ballon drücken gespürt, sodass sie, eingefangen in einem Netz von Ängsten, die sie die Geburt eines Kindes mit zwei Köpfen befürchten ließen, der subtilen Magie von Methwold’s Estate irgendwie entkam und nicht von Cocktailstunden, Papageien, Pianolas und englischem Akzent angesteckt wurde ... Zunächst einmal hatte ihre Gewissheit, dass
sie den Preis der Times gewinnen würde, also etwas Fragwürdiges, denn sie war zu der Überzeugung gekommen, dass, sollte dieser Teil der Prophezeiungen des Wahrsagers erfüllt werden, dadurch bewiesen würde, dass sich die anderen, was immer sie bedeuteten, genauso bewahrheiten würden. Deshalb sagte meine Mutter nicht gerade im Tonfall ungeschmälerten Stolzes und reiner Vorfreude: «Lassen Sie die Intuition beiseite, Mr. Methwold. Dies ist eine verbürgte Tatsache.»
    Und für sich selbst setzte sie hinzu: «Und auch dies: Ich werde einen Sohn bekommen. Aber man muss furchtbar auf ihn aufpassen, sonst...»
    Mir scheint, dass die übernatürlichen Einbildungen Naseem Aziz’, tief verankert im Wesen meiner Mutter, vielleicht tiefer, als sie wusste, begonnen hatten, ihre Gedanken und ihr Verhalten zu beeinflussen – jene Einbildungen, die Ehrwürdige Mutter davon überzeugt hatten, Flugzeuge seien Erfindungen des Teufels, und Fotoapparate könnten einem die Seele stehlen, und Geister seien genauso augenscheinlich Bestandteil der Wirklichkeit wie das Paradies, und es sei nichts Geringeres als eine Sünde, gewisse geheiligte Ohren zwischen Daumen und Zeigefinger zu nehmen, raunten nun im sich verdüsternden Kopf ihrer Tochter. «Selbst wenn wir mitten in all diesem englischen Plunder sitzen», begann meine Mutter zu denken, «ist dies doch immer noch Indien, und Leute wie Ramram Seth wissen, was sie wissen.» Auf diese Weise wurde der Skeptizismus ihres geliebten Vaters durch die Leichtgläubigkeit meiner Großmutter ersetzt; und gleichzeitig wurde der abenteuerlustige Funke, den Amina von Doktor Aziz geerbt hatte, durch etwas anderes, ebenso Gewichtiges erstickt.
    Um die Zeit, als Ende Juni der Regen kam, war der Fötus in ihrem Leib voll ausgeformt. Knie und Nase waren vorhanden und so viele Köpfe, wie wachsen würden, schon in der richtigen Lage. Was (am Anfang) nicht größer als ein Punkt gewesen war, hatte sich zu einem Komma, einem Wort, einem Satz, einem Absatz, einem
Kapitel ausgedehnt; nun entwickelte es sich spurenhaft zu komplexeren Formen, wurde sozusagen ein Buch – vielleicht eine Enzyklopädie  –, sogar eine ganze Sprache ... das heißt, dass der Klumpen in meiner Mutter Mitte so groß und so schwer wurde, dass Amina sich, während die Warden Road am Fuß unseres zweigeschossigen Hügelchens von schmutzig gelbem Regenwasser überflutet wurde und gestrandete Busse zu rosten begannen und Kinder in der aufgelösten Straße schwammen und Zeitungen aufgeweicht unter die Oberfläche absanken, in einem kreisrunden Turmzimmer im ersten Stock wiederfand und kaum fähig war, sich unter dem Gewicht ihres bleiernen Ballons zu bewegen.
    Endloser Regen. Wasser sickerte unter Fenstern

Weitere Kostenlose Bücher