Mitternachtskinder: Roman (German Edition)
Amina, die in ihrem Turmzimmer sitzt und so den in ihre Richtung geworfenen diskret rivalisierenden Blicken von Nussie nebenan ausweicht, die
vielleicht auch ihren Sonny hinunter und zwischen den Beinen hinausdrängt; neugierig beobachten sie den Engländer, der so unbeweglich und steif dasteht wie das Lineal, mit dem wir vorhin seinen Mittelscheitel verglichen haben, bis sie von einem Neuankömmling abgelenkt werden. Ein langer, sehniger Mann, der drei Reihen Perlen um den Hals und eine Kette aus Hühnerknochen um die Taille trägt, dessen dunkle Haut mit Asche gefärbt ist und dessen Haar lang und lose hängt – nackt bis auf Perlen und Asche, schreitet der Sadhu zwischen den Herrenhäusern heran. Musa, der alte Hausdiener, stürzt ihm entgegen, um ihn zu verscheuchen, zaudert aber, weil er nicht weiß, wie man einen heiligen Mann kommandiert. Durch den Schleier von Musas Unentschlossenheit dringt der Sadhu ein und betritt den Garten von Buckingham Villa, geht geradewegs an meinem verdutzten Vater vorbei und setzt sich dann mit gekreuzten Beinen unter den tröpfelnden Wasserhahn im Garten.
«Was willst du hier, Sadhuji?» Musa kann die Ehrerbietung nicht unterdrücken; darauf der Sadhu, ruhig wie ein See: «Ich bin gekommen, um die Ankunft des Einen zu erwarten. Des Mubarak – dessen, der gesegnet ist. Sie steht kurz bevor.»
Ob Sie es glauben oder nicht: Ich wurde zweimal prophezeit! Und an jenem Tag, an dem zeitlich alles so bemerkenswert günstig ablief, ließ auch der Sinn meiner Mutter für zeitliche Koordinierung sie nicht im Stich; kaum waren die letzten Worte den Lippen des Sadhu entflohen, da erklang aus einem Turmzimmer im ersten Stock, in dem Glastulpen auf den Fenstern tanzten, ein durchdringender Schrei, ein Cocktail, der zu gleichen Teilen aus Panik, Erregung und Triumph bestand ... «Arré Ahmed!», schrie Amina Sinai gellend.«Janum, das Baby! Es kommt – pünktlich auf die Minute!»
Spannung pulsiert in Methwold’s Estate ... und Homi Catrack kommt flott ausgezehrt tiefäugig angetrabt und bietet an: «Mein Studebaker steht zu Ihrer Verfügung, Sinai Sahib; nehmen Sie ihn – fahren Sie sofort! ...», und als es noch fünf Stunden und dreißig Minuten dauern wird, fahren die Sinais, Mann und Frau, in dem
geliehenen Wagen den zweigeschossigen Hügel hinab; der große Zeh meines Vaters drückt auf das Gaspedal, die Hände meiner Mutter drücken auf ihren Mondbauch; und nun sind sie nicht mehr zu sehen; um die Kurve herum, an der Tip-Top-Reinigung und dem Paradies des Lesers vorbei, an Fatbhoys Juwelen und Chimalkars Spielzeug, an der Ein-Meter-Schokolade und den Toren von Breach Candy vorbei, fahren sie zu Dr. Narlikars Entbindungsheim, wo Wee Willies Vanita sich mit durchgezogenem Rückgrat und hervorquellenden Augen immer noch aufbäumt und zusammenkrümmt und auch eine Hebamme namens Mary Pereira auf ihre Stunde wartet ... sodass weder Ahmed mit der vorspringenden Lippe und dem schwammigen Bauch und den erfundenen Vorfahren noch die dunkelhäutige, von Prophezeiungen gequälte Amina anwesend waren, als die Sonne schließlich über Methwold’s Estate unterging und William Methwold genau in dem Augenblick, in dem sie endgültig verschwand – noch fünf Stunden und zwei Minuten –, einen langen weißen Arm über den Kopf erhob. Eine weiße Hand schlenkerte über pomadisiertem schwarzen Haar, lange, spitz zulaufende weiße Finger zuckten über dem Mittelscheitel, und das zweite und letzte Geheimnis wurde offenbart, denn die Finger krümmten sich und ergriffen das Haar, ließen ihren Raub auch nicht los, als sie es vom Kopf wegzogen; und in dem Augenblick nach dem Verschwinden der Sonne stand Mr. Methwold in ihrem Nachglanz auf Methwold’s Estate da, mit seinem Haarteil in der Hand.
«Ein Glatzkopf!», ruft Padma aus. «Dem sein auf Hochglanz gebrachtes Haar ... ich hab’s gewusst: zu gut, um echt zu sein!»
Kahl, kahl, glatzköpfig! Offenbart: der Trick, mit dem die Frau eines Akkordeonspielers hereingelegt worden war. Wie bei Samson hatte William Methwolds Macht dem Haar innegewohnt; doch nun, der kahle Fleck glüht in der Dämmerung, wirft er seinen Schopf durchs Fenster seines Automobils; verteilt anscheinend unbekümmert die unterschriebenen Erwerbsurkunden für seine Paläste und fährt weg. Niemand in Methwold’s Estate hat ihn je wieder
gesehen; aber ich, der ihn kein einziges Mal sah, finde es unmöglich, ihn zu vergessen.
Plötzlich ist alles safrangelb und
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