Mitternachtskinder: Roman (German Edition)
moslemischen Nation verkündete ... aber sie windet sich immer noch auf einem Bett in der «Caritas-Station» von Narlikars Klinik (reserviert für die Armen) ... die Augen quellen ihr halb aus dem Kopf, ihr Körper glänzt von Schweiß, aber das Kind macht keine Anstalten zu kommen, und sein Vater ist auch nicht da; es ist acht Uhr morgens, doch unter den gegebenen Umständen besteht immer noch die Möglichkeit, dass das Kind bis Mitternacht warten könnte.
Gerüchte in der Stadt: «Die Statue ist letzte Nacht losgaloppiert! »... «Und die Sterne stehen ungünstig!» ... Aber trotz dieser schlechten Omen schwebte die Stadt, und in ihren Augenwinkeln glitzerte ein neuer Mythos. August in Bombay: ein Monat der Feste, der Monat von Krischnas Geburtstag und des Kokosnuss-Tags; und in diesem Jahr – noch vierzehn Stunden, dreizehn, zwölf – stand ein zusätzliches Fest auf dem Kalender, war ein neuer Mythos zu feiern, denn eine Nation, die es nie zuvor gegeben hatte, war kurz davor, ihre Unabhängigkeit zu erlangen und uns in eine Welt zu katapultieren, die, obwohl sie eine fünftausend Jahre alte Geschichte hatte, obwohl sie das Schachspiel erfunden und mit Ägyptens Mittlerem Reich Handel getrieben hatte, nichtsdestoweniger eigentlich nur in der Einbildung existierte; in ein mythisches Land, ein Land, das es nie geben würde außer durch die Anstrengungen eines phänomenalen kollektiven Willens – außer in einem Traum, den zu träumen wir alle einwilligten; es war eine Massenphantasie, an der Bengalen und Pandschabis, Madrasis und Jats in verschiedenem Maße teilhatten und die in regelmäßigen Abständen der Sanktionierung und Erneuerung bedurfte, die nur blutige Rituale bereithalten können. Indien, der neue Mythos – eine Gemeinschaftserfindung, in der alles möglich war, eine Fabel, der nur die beiden anderen mächtigen Phantasien gleichkamen: Geld und Gott.
Ich bin zu meiner Zeit der lebendige Beweis für die sagenhafte Natur dieses Kollektivtraums gewesen, aber für den Augenblick wende ich mich von diesen allgemeinen, makrokosmischen Begriffen ab, um mich auf ein persönlicheres Ritual zu konzentrieren; ich beschreibe nicht den massenhaften Aderlass, der an den Grenzen des geteilten Pandschab vonstatten geht (wo die aufgeteilten Nationen sich im Blut der anderen waschen und ein gewisser kasperlgesichtiger Major Zulfikar zu lächerlich niedrigen Preisen Flüchtlingsbesitz kauft und damit den Grundstein zu einem Vermögen legt, das dem des Nizam von Haiderabad gleichkommt); ich wende meine Augen von der Gewalttätigkeit in Bengalen und dem langen
Friedensmarsch Mahatma Gandhis ab. Egoistisch? Engstirnig? Gut, vielleicht; aber meiner Meinung nach entschuldbar. Schließlich wird man nicht jeden Tag geboren.
Es bleiben noch zwölf Stunden. Amina Sinai, von ihrem Fliegenpapier-Albtraum erwacht, wird nicht wieder schlafen, bis nach ... Ramram Seth füllt ihre Gedanken aus, sie treibt in einer aufgewühlten See, in der Wogen der Erregung mit tiefen, Schwindel erregenden, dunklen Wassertälern der Angst abwechseln. Aber auch noch etwas anderes ist im Gang. Sehen Sie ihre Hände – wie sie unwillkürlich ihren Leib fest nach unten drücken; sehen Sie ihre Lippen, die ohne ihr Wissen murmeln: «Komm, mach schon, du Langweiler, du willst doch nicht zu spät für die Zeitung kommen!»
Noch acht Stunden ... um vier Uhr an jenem Nachmittag fährt William Methwold in seinem schwarzen Rover Baujahr 46 den zweigeschossigen Hügel hoch. Er parkt in der Manege zwischen den vier stattlichen Villen; aber heute besucht er weder den Goldfischteich noch den Kakteengarten; er begrüßt weder Lila Sabarmati mit seinem üblichen: «Was macht das Pianola? Alles paletti?», noch grüßt er den alten Ibrahim, der im Schaukelstuhl schaukelnd und in Gedanken über Sisal versunken im Schatten einer Veranda sitzt; weder Catrack noch Sinai beachtend, nimmt er seine Stellung genau in der Mitte der Manege ein. Rose im Revers, cremefarbener Hut steif gegen die Brust gedrückt, Mittelscheitel schimmernd im Nachmittagslicht: William Methwold starrt geradeaus, am Uhrturm und an der Warden Road vorbei, über den der Landkarte nachgeformten Swimmingpool von Breach Candy hinaus, über die goldenen Vier-Uhr-Wellen hinweg, und salutiert; während dort draußen über dem Horizont die Sonne ihren langen Kopfsprung ins Meer beginnt.
Sechs Stunden noch. Die Cocktailstunde. William Methwolds Nachfolger sind in ihren Gärten – ausgenommen
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