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Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Titel: Mitternachtskinder: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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tun, was getan werden musste, damit das Baby mit augenscheinlich phantastischer Geschwindigkeit wachsen konnte. Versunken in solchen chronologischen Wachträumen, bemerkte sie mein Problem nicht. Erst als sie die Idee verwarf und sich sagte, ich sei bloß ein braver strammer Bursche mit gutem Appetit, ein Frühentwickler, teilten die Schleier
mütterlicher Liebe sich so weit, dass sie und Mary unisono kreischten:«Sieh, baap-re-baap! Sehen Sie, Madam! Sieh nur, Mary! Der kleine Kerl blinzelt nie!»
    Die Augen waren zu blau: kaschmirblau, wechselbalgblau, blau vom Gewicht unvergossener Tränen, zu blau zum Blinzeln. Wurde ich gefüttert, flatterten meine Augenlider nicht; legte die jungfräuliche Mary mich über ihre Schulter und rief aus: «Oh, wie schwer, lieber Jesus!», rülpste ich, ohne die Augen zusammenzukneifen. Humpelte Ahmed Sinai mit geschientem Zeh an mein Bettchen, überließ ich mich vorstehenden Lippen mit durchdringendem und starrem Blick ... «Vielleicht täuschen wir uns auch, Madam», meinte Mary, «vielleicht macht der kleine Herr uns nach – blinzelt, wenn wir blinzeln.» Und Amina: «Blinzeln wir abwechselnd und beobachten ihn.» Sie öffneten und schlossen ihre Augenlider abwechselnd und beobachteten meine eisige Bläue, aber nicht das kleinste Zucken war zu sehen, bis Amina die Sache selbst in die Hand nahm und in die Wiege fasste, um meine Augenlider nach unten zu streichen. Sie schlossen sich: augenblicklich atmete ich im zufriedenen Rhythmus des Schlafs. Danach übernahmen Mutter und Ayah es einige Monate lang abwechselnd, meine Lider zu öffnen und zu schließen. «Er lernt es schon noch, Madam», tröstete Mary Amina. «Er ist ein braves, gehorsames Kind, und er kommt bestimmt dahinter.» Ich lernte die erste Lektion meines Lebens: Niemand kann der Welt die ganze Zeit mit offenen Augen ins Gesicht sehen.
     
    Wenn ich nun durch Babyaugen zurückblicke, kann ich alles ganz deutlich sehen – es ist erstaunlich, an wie vieles man sich erinnern kann, wenn man es versucht. Was ich sehen kann: die Stadt, die sich wie eine Schönechse in der Sommerhitze sonnt. Unser Bombay: Es sieht aus wie eine Hand, aber in Wirklichkeit ist es ein Mund; immer offen, immer hungrig, verschlingt er Nahrung und Begabung aus allen anderen Orten Indiens. Ein prächtig aussehender
Blutegel, der nichts hervorbringt als Filme, Buschhemden, Fische ... in den Nachwirren der Teilung sehe ich Vishwanath den Postboten mit einem Büttenumschlag in der Satteltasche unseren zweigeschossigen Hügel hinaufradeln und sein betagtes Arjuna-India-Rad an einem auseinander fallenden Bus vorbeilenken – er wurde, obwohl nicht Monsunzeit ist, im Stich gelassen, weil sein Fahrer plötzlich beschloss, nach Pakistan auszuwandern, den Motor abstellte und wegging. Eine Busladung gestrandeter Passagiere, die an den Fenstern hingen, sich auf dem Dachgepäckträger festhielten, aus der Tür hervorquollen, ließ er einfach zurück ... Ich kann ihre Flüche hören, Schweinesohn, Eselsarsch, aber trotzdem werden sie sich noch zwei Stunden an ihre hart erkämpften Plätze klammern, ehe sie den Bus seinem Schicksal überlassen. Und, und: Hier ist der erste Inder, der den Ärmelkanal durchschwamm, Mr. Pushpa Roy. Er kommt gerade an den Toren des Breach-Candy-Schwimmbads an. Mit safrangelber Badekappe auf dem Kopf, die grüne Badehose in ein flaggenfarbenes Handtuch gewickelt, hat dieser Pushpa der Nur-für-Weiße-Politik der Badeanstalt den Krieg erklärt. In der Hand ein Stück Mysore-Sandelholzseife, richtet er sich auf, marschiert durch das Tor ... worauf gedungene Pathanen ihn ergreifen – wie üblich retten Inder Europäer vor einer indischen Meuterei –, und schon kommt er heraus, wird, obwohl er sich heldenhaft wehrt, in die Warden Road geschleppt und in den Staub geworfen. Der Kanalschwimmer taucht in die Straße ein, entgeht um ein Haar Kamelen, Taxis, Fahrrädern (Vishwanath weicht aus, um nicht über das Stück Seife zu fahren) ... aber er ist nicht abgeschreckt, rappelt sich hoch, staubt sich ab und gelobt, morgen wieder da zu sein. Meine ganzen Kindheitsjahre hindurch wurden die Tage durch den Anblick Pushpas des Schwimmers markiert, der mit safrangelber Badekappe und flaggenfarbigem Handtuch unfreiwillig in die Warden Road eintauchte. Und am Ende errang er mit seinem unbezwingbaren Feldzug einen Sieg, denn heute erlaubt die Verwaltung der Badeanstalt bestimmten Indern –«den besseren»
 –, in das landkartenförmige

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