Mitternachtslöwe (German Edition)
Kaum eine Nacht schlief er. Seine Augen wachten ständig, denn überall, hinter jedem Ast, konnte Vitus mit neuen Machenschaften des Regimes lauern.
Zwar hatten sie durch die Hilfe der Nixen das gesamte Alpengebirge hinter sich gelassen, doch der Weg nach Andorra zog sich hin. Der Verlust des Mädchens zerrüttete Sophia immer mehr. Kein Gespräch mochte sie annehmen und so trabten sie dahin, wie ein Trauerzug von Geistern auf der Suche nach ihrem verlorenen Schicksal. Einen Tagesmarsch von Andorras Grenzen entfernt erreichten sie eine breit gepflasterte Straße. Endlich raus aus dem Wald, weg von den Wiesen und Trampelpfaden.
»Vielleicht nimmt uns ein fahrender Händler mit«, sagte Abaris hoffnungsvoll, aber Byrger bezweifelte dies.
»Santiago Lozano, Juan Rodríguez Zapatero, Pasqual...«, Byrger nahm den Fuß beiseite, »...Soley.« Unzählige weitere Namen lagen zu ihren Füßen. »Ein Straße der Toten.«
»Ich... ich will hier nicht gehen.« Sophia zuckte zusammen.
Sie gingen neben dem Pflaster und folgten ihm. Doch niemand von ihnen vermochte sich den Namen, den Jahreszahlen und persönlichen Sprüchen zu entziehen, die dort am Boden in Sandstein, Kalk oder Marmor gemeißelt standen.
»Ob sie wirklich da drunter liegen?«, flüsterte Sophia Byrger zu.
»Denk nicht daran. Komm weiter!«
Der verspielte Tanz des Sommers ging verloren. Statt Schmetterlingen flogen Motten durch die letzten Sonnenstrahlen und das Laub hing schlaff bis zum Boden. Am frühen Nachmittag führte das Todespflaster in ein Dorf, wo es als rundgelegener Platz auslief. In der Mitte stand ein blanker Grabstein, größer als alle anderen und eher einem Obelisken gleich. Kein Name, kein Jahr, keine Verse. Nur ein kleiner, senkrechter Strich von zwei Linien durchkreuzt.
»Haghal, die Rune der umfassenden Kunst. Hier wird sich unser Bestreben erfüllen.« Byrger glänzte.
Nirgends regte sich etwas. Das Dorf ruhte stumm, wie ein... Friedhof. Sie schlichen weiter. Vorsichtig und leise, als könnten sie mit dem kleinsten Laut jemanden wecken.
»Na los, beweg deinen zotteligen Hintern!«, rief plötzlich jemand.
»Bestimmt der Totengräber«, versuchte Abaris zu flachsen.
Sie folgten dem Geschrei bis ans anderen Ende des Dorfes. Unter einer alten Linde trieb ein zauseliger Mann einen armen Hund an.
»Beweg dich du räudiges Vieh! Ernte endlich diesen verdammten Schreihals!« Den Kläffer hatte er mit einem Seil an eine Alraune gebunden.
Unterm Galgen die Alraune steht,
ihr Schrei durch alle Winde weht.
Der Tod rückt an beim Griff zu ihr,
musst zetern du, bringt Schmerzen dir.
Mit einem Ast schlug er dem Hund auf den Rücken. Der Ärmste heulte auf, rannte los und riss das Wurzelmännchen mit sich. Der verwahrloste Mann wackelte hinterher und schrie: »Wo rennst du hin? Weg rennt er! Komm wieder her, Raffo, du lausiges Mistvieh!«
»Was fällt Euch ein den Hund so zu quälen?!«, mischte Sophia sich ein, »Lasst ihn in Frieden!« Mit jedem Wort gewann sie mehr Stimme wieder.
»Habt Ihr je eine Alraune gepflückt? Nein hat sie nicht! Denn dann stände sie nicht hier! Was fällt ihr also ein...« Die Knie zur Seite gebeugt und mit den Armen schlaff vorne überhängend starrte der Gammler sie verwirrt an. Sein eines Auge flatterte und sein Mund hing an der Seite offen, wie gelähmt.
»Was ist dies für ein Ort? Wo sind all die Bewohner?«, fragte Byrger.
»Wo sie hin sind? Hin sind sie!« Der Mann schwang wellig seine Arme in die Luft und lachte. »Nur ich bin hier und werde es bleiben für immer, und immer, und immer, und immer, und immer...«
»Wer seid Ihr?«, wollt Byrger wissen und unterbrach hart.
Der Mann begann im Kreis zu tanzen und zu singen: »Theo-phras-tus-Bom-bas-tus-Phi-lip-pus-von-Ho-hen-heim!« Gackernd und mit den Armen wild wedelnd lief er im Zickzack umher.
Ungläubige Augen machten die Runde. Ein übler Scherz, so ging es Byrger durch den Kopf. Paracelsus starb vor mehr als hundert Jahren. Warum gab sich dieser Mann also für ihn aus? Es sei denn...
»Nun, ist dies wohl der Beweis für Paracelsus' Erlangen eines Lebenselixiers und dafür, dass es wirksam ist?«, sagte Byrger, der sich sehr bemühte die Fassung zu waren.
»Aber, wenn das wirklich Paracelsus ist«, ungläubig und fassungslos schüttelte Sophia den Kopf, »scheint er völlig verrückt geworden zu sein!«
»Oder er war schon immer so«, warf Abaris ein.
Dann geschah etwas von dem Byrger nicht wusste, dass es überhaupt möglich
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