Mitternachtslust
seinen Heimatort erwähnte, bemerkte sie seinen leichten süddeutschen Dialekt.
»Strangers in the night, exchanging glances …« Der Mann am Flügel begann leise zu singen. Er hatte eine erstaunlich volle, tiefe Stimme, die nicht im Geringsten zu seinem schmalschultrigen Äußeren passte.
Melissa legte ihren Kopf in den Nacken und blinzelte in die dunkelgrauen Augen des Fremden, mit dem sie tanzte. Das Funkeln der kleinen Glitzerkugel über der Tanzfläche blendete sie, aber sie sah nicht weg. »Komisch. Du siehst aus wie jemand, der schon ziemlich herumgekommen ist.« Ihr war bewusst, dass diese Bemerkung vielleicht zweideutig klang, aber das war ihr egal.
»Versuchen wir nicht alle, etwas vorzugeben, was wir nicht sind?« Sein Blick war ernst, aber sie meinte, ein leichtes Zucken seiner Mundwinkel wahrgenommen zu haben.
Je länger sie sich drehte und in die Augen über sich starrte, umso deutlicher spürte sie den Sekt und die beiden Martini in ihrem Kopf. Schließlich hatte sie außer ein paar Nüssen seit vielen Stunden nichts gegessen.
Als er sie mit einem Ruck fester an sich zog, wehrte sie sich nicht. Es war angenehm, endlich seinen muskulösen Körper zu spüren. Fasziniert und ein wenig erschrocken konnte sie jetzt fühlen, dass sein Interesse an ihr deutlich über einen Tanz hinausging.
»Und was gibst du vor, zu sein, Melissa?«, fragte er dicht an ihrem Ohr.
Sie zuckte die Achseln, soweit ihr das in seiner engen Umarmung möglich war. »Unverwundbar vielleicht?«, überlegte sie laut. »Glücklich? Zufrieden?«
»Trifft es dich sehr, wenn ich dir verrate, dass du nicht besonders überzeugend bist?« Sein Atem streichelte die empfindliche Haut hinter ihrem Ohr.
Sie antwortete nicht, weil sie viel zu sehr damit beschäftigt war, die merkwürdigen Gefühle zu analysieren, die während der letzten Minuten rasend schnell ihren Körper durchlaufen hatten.
War es möglich, dass sie diesen Mann begehrte? Dass sie mit ihm schlafen wollte? Mit einem völlig Fremden?
»Du machst das öfter, nicht wahr?«, hörte sie sich durch die rosigen Nebelschwaden hindurch fragen, die sie plötzlich umgaben.
»Was mache ich öfter? Tanzen?« Obwohl sie den Blick gesenkt hatte, wusste sie, dass er lächelte.
»In Bars Frauen ansprechen und sie verführen.« In dem Moment, in dem sie die Worte aussprach, wollte sie sie schon zurücknehmen.
»Möchtest du verführt werden?«
»Ich weiß es nicht.«
Was redete sie da eigentlich? Was war, verdammt nochmal, in diesen Drinks gewesen?
»Wir könnten versuchen, es gemeinsam herauszufinden.«
»Was herausfinden?« Sie kam sich wirklich dumm vor, wenn sie sich dumm stellte, aber irgendetwas musste sie schließlich sagen.
»Ob du verführt werden möchtest. Und ob ich die Absicht habe, dich zu verführen.« Sein leises, fast zärtliches Lachen kullerte von ihrem Ohr aus durch ihren ganzen Körper und nistete sich schließlich in der Magengegend ein, wo es pochte und flatterte.
Sie beschloss, dass ein Schweigen die sicherste Antwort war. Eine Weile tanzten sie stumm.
Mit einem furiosen Nachspiel beendete der Mann am Flügel seine Gesangsdarbietung und leitete zu einem neuen Stück über, das Melissa nicht kannte.
»Da du mich gefragt hast, sollst du es auch erfahren«, erklärte der Fremde schließlich, während er seine Schritte geschmeidig dem neuen Rhythmus anpasste. Es war so einfach, mit ihm zu tanzen!
»Es gehört mitnichten zu meinen Gewohnheiten, Frauen in Hotelbars anzusprechen oder gar zu verführen. Ehrlich gesagt, hatte ich seit drei Jahren keinen Sex.«
»Das ist nicht wahr!«
Seine Eröffnung kam so überraschend, dass Melissa ruckartig stehen blieb. Im letzten Moment gelang es ihrem Tanzpartner, seinen Fuß an ihrem Körper vorbeizuschieben und auf diese Weise sein Gleichgewicht zu halten. Jetzt klemmten ihre Schenkel zwischen seinen, und sie konnte nur zu deutlich fühlen, dass er sie in äußerst eindeutiger Weise begehrte. Hastig rückte sie von ihm ab.
»Warum erstaunt dich das so sehr?«, erkundigte er sich, während er sie sanft an sich zog und sich dann weiterdrehte.
»Du bist nicht der Typ, der jahrelang ohne Sex lebt.« Sie sprach mit seiner Schulter, die sich vor ihren Augen im Takt des Klavierspiels hob und senkte.
»Und wenn ich dir sage, dass ich verheiratet bin und zwischen mir und meiner Frau … Es steht nicht gerade zum Besten zwischen uns, sie will nicht mehr mit mir schlafen, und ich weiß nicht so recht, ob ich meinerseits
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