Mitternachtslust
dass es nur Minuten her war, seit sie in Julius’ Armen gelegen hatte. Sie hatte Worte gesprochen, die aus dem Nichts zu kommen schienen, und Dinge gefühlt, die ihr fremd und doch vertraut waren. Irgendwann würde sie vielleicht verstehen, was an diesem Abend wirklich geschehen war. Jetzt drängten sich andere Probleme auf.
Im Gegensatz zu Julius fühlte Alexander sich fest und stark an. Seine Arme hielten sie nicht sanft und vorsichtig, sondern umfingen sie entschlossen. Zumindest würde er sich nicht in Luft auflösen. Geduldig hielt er sie fest, während sie seine Kleidung mit ihren Tränen durchnässte.
Erst als sie sich ein wenig beruhigt hatte, schob er sie behutsam von sich, zog das zerrissene Oberteil ihres Kleides über ihre Brüste und schloss ein paar Häkchen, sodass sie wenigstens notdürftig verhüllt war.
»Sag mir, was passiert ist!«, forderte er sie mit ruhiger Stimme auf.
Wieder presste Melissa ihr feuchtes Gesicht an den glatten Stoff des Hemdes, das er in der Zwischenzeit gegen sein Piratenkostüm eingetauscht hatte.
»Ich … Er … Wir hatten einen Streit, und jetzt ist er tot«, stieß sie, unterbrochen von mehreren krampfhaften Schluchzern, hervor.
»Mein Gott!« Mit einem Ruck schob Alexander sie von sich und starrte durch die Halle in die Richtung, wo im schwachen Licht nur undeutlich die Umrisse des Körpers auf dem schwarz-weißen Fliesenmuster zu erkennen waren. »Was hat er dir angetan?«
Melissa erschrak, als sie die Flammen der Wut in seinen Augen sah. Dann wurde ihr bewusst, dass sein Zorn nicht ihr galt, obwohl er annehmen musste, dass sie diejenige war, die Richard getötet hatte. Er ging ganz selbstverständlich davon aus, Richard müsse etwas Schreckliches getan haben, das sie zu dieser Tat gezwungen hatte.
»Ich war es nicht«, erklärte sie hastig und wischte sich mit dem Handrücken über das Gesicht, weil die Tränen immer noch in einem gleichmäßigen Strom aus ihren Augen flossen.
Alexander legte ihr den Arm um die Schultern und schob sie mehr, als sie freiwillig ging, bis dicht vor die Leiche. Sein Blick blieb an dem blutverschmierten Schürhaken hängen, der neben Richards totem Körper auf dem Boden lag.
»Ich habe es wirklich nicht getan. Es war … Julius.« Es gelang ihr nicht, das Beben ihrer Unterlippe und das Zittern ihrer Stimme unter Kontrolle zu bringen. Mit einem fast trotzigen Gesichtsausdruck presste sie die Lippen aufeinander.
»Wer ist Julius?«, wollte Alexander wissen, während er sich über die Leiche beugte und seine Fingerspitzen seitlich an den Hals des Toten legte.
»Er ist tot. Ich bin sicher, dass er tot ist«, wimmerte Melissa. Obwohl ihr klar war, dass sie Alexanders Frage beantworten musste, wollte sie dies so lange wie möglich hinauszögern.
»Wer ist Julius?«, wiederholte er geduldig.
Sie atmete tief durch. »Du wirst mich für verrückt halten.«
Er schüttelte stumm den Kopf, während er sich suchend in der Halle umsah, als würde er nach jenem Unbekannten Ausschau halten, der Richard angeblich getötet hatte.
Melissa flocht ihre Finger ineinander, löste sie wieder und verschränkte schließlich, als wollte sie sich vor dem schützen, was jetzt unvermeidlich kommen musste, die Arme vor ihrem Körper.
»Julius ist der Geist. Zuerst habe ich auch gedacht, dass es nicht sein kann, dass ich träume oder irgendwelche Halluzinationen habe.« Sie sah das ungläubige Entsetzen in Alexanders Augen und redete schnell weiter. »Aber dann fand ich das Porträt, und ich wusste plötzlich Dinge, die von irgendwoher kamen und auf einmal in meinem Kopf waren. Ich sah Julius dort vor dem Kamin sitzen. Er nannte mich Annabelle, und ich wusste, wie der Hund hieß, der neben ihm lag.«
Erschöpft hielt sie inne. »Jetzt hältst du mich für verrückt, nicht wahr?«
Sein Kopfschütteln wirkte sehr verhalten. »Natürlich nicht. Du hast wahrscheinlich einen Schock.« Sein Blick blieb an Richards Hosen hängen, die bis zu seinen Knöcheln herabgezogen waren. »Es ist ziemlich offensichtlich, was dein Mann mit dir vorhatte. Ich war noch draußen am See und habe dich selbst dort am anderen Ende des Parks schreien und den Hund wie verrückt toben hören. Es war Notwehr. Ich hoffe nur, ihm ist nicht gelungen, seinen perfiden Plan in die Tat umzusetzen.«
Melissa warf ihren Kopf so heftig hin und her, dass ihr Haar wild durch die Luft flog, als sich die letzten Nadeln aus ihrer altmodischen Hochfrisur lösten. »Du glaubst mir nicht! Warum
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