Mitternachtslust
beschäftigst, bist du doch sonst immer besonders gut gelaunt.«
Melissa unterdrückte einen Seufzer. »Es ist nicht so leicht für mich, mich hier einzuleben«, gestand sie schließlich, weil Susanne offensichtlich immer noch auf eine Erklärung für ihre schlechte Laune wartete. »Du fehlst mir. Ich habe hier niemanden, mit dem ich reden kann. Hast du Lust, mich am Wochenende zu besuchen? Richard ist gestern in die Firmenzentrale nach Frankfurt geflogen. Er bleibt mindestens eine Woche weg.«
Susanne lachte leise. »Und du meinst, diese Gelegenheit sollte ich nutzen? Das würde ich schrecklich gern tun, aber ich rufe an, um mich von dir zu verabschieden. Ich fliege morgen Abend auf die Kanaren, nach Fuerteventura. Last Minute.«
»Du? Last Minute?« Erstaunt legte Melissa die Stirn in Falten. Normalerweise plante Susanne ihren Urlaub mindestens ein Jahr im Voraus. Und wenn sie im August flog, begann sie spätestens im Juni zu überlegen, was sie in ihre Koffer packen sollte.
»Na ja. Irgendwie ist im Augenblick alles anders als sonst.« Susannes Kichern klang verlegen.
Melissa schnappte nach Luft und platzte dann heraus: »Du fliegst nicht allein, stimmt’ s?«
Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr sie aufgeregt fort: »Wer ist es? Euer neuer Artdirector, dieser Stefan? Ich will alle Einzelheiten wissen! Er muss ein unglaublicher Mann sein, wenn ausgerechnet du dich von ihm zu einer Last-Minute-Reise überreden lässt.«
»Ehrlich gesagt, musste er mich nicht überreden. Es war meine Idee. Ich ging an einem Reisebüro vorbei, sah ein Bild von Palmen, Strand und Meer, und plötzlich malte ich mir aus, wie es wohl wäre, zwei Wochen lang Tag und Nacht mit ihm zusammen zu sein – und noch dazu unter südlicher Sonne. Das war eine unwiderstehliche Vorstellung.« Diesmal klang Susannes Lachen einfach nur glücklich. Für einen kurzen Moment beneidete Melissa ihre Freundin, obwohl sie ihr natürlich alles Glück dieser Erde gönnte.
»Und der Mann, mit dem ich fliege, ist mitnichten einer dieser Werbefuzzis. Stefan hat sich als totale Niete entpuppt. Nein, nein, Jochen ist Philosophieprofessor«, sprudelte Susanne los. »Das musst du dir mal vorstellen! Ich und ein Philosoph! Aber er sieht nicht aus, wie man sich einen Philosophen vorstellen würde. Na ja, ehrlich gesagt, habe ich noch nie darüber nachgedacht, wie ein Philosoph aussieht. Stell dir einfach eine Mischung aus Bruce Willis und Tom Hanks vor.«
»Seit wann kennst du ihn?«, erkundigte Melissa sich verblüfft.
»Lass mal überlegen – seit genau zehn Tagen.«
Melissa schluckte. »Ich freue mich für dich, Susanne«, sagte sie dann aus tiefstem Herzen.
»Findest du nicht, dass ich verrückt bin?«
»Natürlich. Aber was ist das Leben ohne ein bisschen Verrücktheit schon wert?«
Verblüfftes Schweigen am anderen Ende der Leitung. Dann die vorsichtige Frage: »Ist bei dir auch irgendwas passiert, Melissa?«
»Nicht direkt«, antwortete Melissa heiter. Von einer Sekunde auf die andere war ihre schlechte Laune wie weggeblasen, und sie fand es sogar irgendwie lustig, dass sie seit neuestem ein Foto hatte, auf dem Alexander Burg zu sehen war, wie er in den Büschen hockte. Vielleicht würde sie den Ausschnitt vergrößern.
»Und indirekt?«, hakte Susanne nach.
»Aus irgendeinem Grund ist hier alles anders. Hamburg, das Haus. Ich weiß noch nicht, wo das hinführt, aber zumindest habe ich das Gefühl, dass es irgendwo hinführen wird.«
»Wirst du dich endlich von Richard trennen?«
»Natürlich. Irgendwann. Ich habe dir gesagt, dass ich zunächst einmal für meine Zukunft sorgen will.«
»Geld ist nun wirklich nicht das Wichtigste.«
»Das sagst du nur, weil du immer genug hattest.« Melissa legte ihren Kopf in den Nacken und betrachtete die Stuckverzierungen an der Decke.
Außerdem kann ich nicht einfach aus diesem Haus ausziehen. Es hält mich fest, und ich muss zumindest herausfinden, warum.
»Du könntest einen Kredit aufnehmen, wenn du dich als Fotografin selbstständig machen willst …«
»Bitte, Susanne, überlass das einfach mir! Es ist schließlich mein Leben.« Manchmal hatte Melissa das Gefühl, sich gegen Susannes fürsorgliche Art wehren zu müssen, um nicht wie eine Fünfjährige bei der Hand genommen und durchs Leben geführt zu werden.
Als Susanne schwieg, wechselte Melissa das Thema.
»Schade, dass du mich nicht besuchen kannst, aber ich freue mich für dich. Du wirst sicher einen tollen Urlaub haben. Schreib mir eine
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