Mitternachtsmorde
auf dem sie zu ihrer großen Überraschung las, dass das Handtuch zu hundert Prozent aus Baumwolle bestand. Baumwolle! Ob er wohl wusste, wie wertvoll diese Tücher waren? Nein, natürlich wusste er das nicht. Nur die Reichen, die absolut Superreichen, konnten sich Stoffe aus Naturfasern leisten: Baumwolle, Seide, Leinen – all das war teurer als Diamanten. In ihrer Zeit bestand die Kleidung ausschließlich aus synthetischen Materialien; auf jeden Fall alles, was sie besaß.
Das Handtuch erinnerte sie an die Badeapparatur in ihrem Motel. Sie hatte herausgefunden, wie sie funktionierte, und obwohl sie es insgeheim als obszöne Verschwendung empfand, Wasser zur Körperreinigung zu verwenden, hatte sie es sehr genossen, wie das warme Wasser über ihren Körper geflossen war. Knox hatte in seinem Bad die gleiche Apparatur, und nachdem sie den ganzen heißen Tag in diesen Kleidern und noch dazu größtenteils im Freien verbracht hatte, brauchte sie ein Bad. Zu dumm, dass sie ihre saubere Wechselkleidung noch nicht hatte, aber im Moment war sie schon froh, wenn sie den alten Schweiß und Schmutz abwaschen konnte.
Sie setzte ihr Vorhaben in die Tat um, eilte ins Bad und verriegelte die Tür, bevor sie ihre Sachen auszog. Einer der Vorteile der Synthetikstoffe war, dass sie sehr schnell trockneten, innerhalb weniger Minuten sogar, falls man draußen in den Regen geriet. Sie wusch kurz ihre Unterwäsche und das Hemd durch und hängte alles zum Trocknen auf, ehe sie die Dusche aufdrehte. Sie hätte alle Kleider gewaschen, aber diese Arbeit per Hand erledigen zu wollen, kam ihr ziemlich mühsam vor.
Nachdem sie sich ein Handtuch um den Kopf gewickelt hatte, damit ihre Haare nicht nass wurden, trat sie unter das warme Wasser und seufzte wohlig. Ihre Zeit war vielleicht die beste, was praktische Erfindungen anging, aber in anderen Dingen war diese Zeit eindeutig besser, wozu unter anderem warmes Wasser zum Waschen gehörte. Genauso wie ein reichlicher Vorrat an Baumwollhandtüchern. Ach, und Papier!, dachte sie und hätte beinahe zu grinsen begonnen, als sie sich ausmalte, wie schön es wäre, etwas davon mitnehmen zu können – vorausgesetzt, sie wurde nicht umgebracht, vorausgesetzt, man schickte ein Rettungsteam aus, das ihr Ersatzmanschetten brachte, damit sie überhaupt heimkehren konnte, vorausgesetzt, eine Vielzahl anderer Faktoren entwickelten sich zu ihren Gunsten.
Der Gedanke an zu Hause dämpfte ihre Freude über die warme Dusche. Sie durfte gar nicht daran denken, dass sie vielleicht nicht mehr nach Hause konnte. Sie hatte eine Familie, Freunde und eine Arbeit, die sie liebte. Sie stand ihren Eltern und ihrer jüngeren Schwester Fair sehr nahe; ihr jüngerer Bruder Connor hatte vor zwei Jahren zur allgemeinen Verblüffung seine wilden Junggesellenzeiten aufgegeben und geheiratet, und er und seine Frau hatten prompt einen kleinen, dicken, wundervollen Jungen bekommen, den Nikita vergötterte. Sie konnte sich nicht vorstellen, nie wieder Jemis kleines Grübchengesicht zu sehen oder nie wieder sein ansteckendes Lachen zu hören. Sie musste nach Hause zurückkehren, alles andere würde sie nicht ertragen.
Sauber und nach Kräuterseife duftend, drehte sie das Wasser ab und trocknete sich mit dem Handtuch, das sie um ihren Kopf gewickelt hatte. Auf der Ablage unter dem Spiegel standen mehrere Gegenstände, die sie genau untersuchte und unter denen sie eine Zahnbürste, eine Tube Zahnpasta – auf der Tube stand »Zahnpasta«, weshalb sie da schlecht irregehen konnte – und einen Rasierapparat erkannte. Auch in ihrer Zeit verwendeten die Männer Rasierer; auch sie gehörten zu den zeitlosen Erfindungen. Zahnbürsten dagegen waren schon seit über einem Jahrhundert nicht mehr in Gebrauch; antivirale Medikamente hatten dem Zahnverfall in der modernen Welt den Garaus gemacht, und Mundwasser brachen die Plaques auf den Zähnen in ihre Bestandteile auf und lösten sie vom Zahnschmelz.
Sie fand ein Fläschchen Feuchtigkeitscreme – ohne Duft –, cremte sich damit ein und zog sich dann wieder an. Die Unterwäsche und das Hemd waren inzwischen getrocknet und fühlten sich deutlich frischer und viel angenehmer an. Entspannt und gelöst nahm sie die Erkundung des Hauses wieder auf.
In dem Hauptraum, dem Wohnraum, standen mehrere bequeme Sessel, eine große Ledercouch und dazu ein viel größerer Bildschirm, als sie in dieser Epoche bisher gesehen hatte. Verglichen mit diesem hier war der in ihrem Motelzimmer winzig
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