Mitternachtspicknick
durch die Haare, dass sie nach allen Seiten abstanden.
»Sie ist mir entwischt«, sagte er zerknirscht.
»Wer? Frau Jung?«
»Ja. Ich hab sie den ganzen Morgen nicht aus den Augen gelassen. Sie hat nur gelesen, ist dann in die Küche gegangen, hat sich eine Tasse Tee geholt und dann weitergelesen. Ich bin ihr ständig gefolgt. Die Köchin fragte mich schon, was ich hier immer herumzulungern hätte.«
Tom nickte. »Und weiter?«
»Sie stand schließlich auf und ging hinauf in ihr Zimmer. Vorher schaute sie noch auf die Uhr. Kann sein, dass sie einen bestimmten Zeitpunkt abgewartet hat. Ich blieb unten an der Treppe stehen und wartete. Schließlich lief ich hinauf und klopfte an ihre Tür. Hätte sie ›Herein‹ gesagt, wäre ich schnell fortgerannt. Aber es kam keine Antwort. Ich spähte in das Zimmer. Sie war nicht mehr dort. Und plötzlich fiel mir ein ...«
»Oh ...«, sagte Tom leise.
Chris nickte. »Ja. Die Hintertreppe. Die hatte ich völlig vergessen. Und über die war sie mir entwischt.«
»Meinst du, sie hat dich bemerkt?«
»Ich glaube nicht. Nein, ich kann es mir nicht vorstellen. Sie hat zufällig die andere Treppe benutzt.«
»Vielleicht wollte sie auch einfach niemandem begegnen.«
»Hatte sie ein blaues Kleid an?«
»Ein blaues Kleid?«, fragte Chris überrascht. »Nein.
Wieso?«
»Sie hat sich natürlich in ihrem Zimmer umgezogen ...«, murmelte Tom. In kurzen Worten berichtete er von seinem Erlebnis im Wald. »Wir können nur hoffen, dass Kathrin nicht zu viel ausplaudert«, schloss er. »Und wir wissen, dass wir uns beeilen müssen. Denn die haben etwas vor.«
»Es fragt sich, ob sie dabei bleiben«, meinte Chris nachdenklich. »Sie sind jetzt gewarnt.« Ratlos blickten sie einander an.
»Warten wir, bis die Mädchen zurückkommen«, schlug Chris vor. »Vielleicht haben die eine Idee.«
Kathrin dachte unentwegt über ihr Erlebnis nach. Von solchen Geschichten las man sonst in Romanen, aber sie passierten einem nicht selber. Umso erstaunlicher kam es ihr vor, dass gerade sie in etwas so Ungewöhnliches hineingerutscht war. Sie wünschte nur, sie könnte mit jemandem darüber sprechen. Daheim hatte sie immer ihre Mutter, mit der sie alles bereden konnte, in der sie eine verständnisvolle Zuhörerin fand. Dort wurde es ihr nicht so bewusst, dass es keine Freunde in ihrem Leben gab.
»Wir beide halten zusammen«, sagte ihre Mutter oft. »Von allen Menschen verstehe ich dich sowieso am besten, Kathrin.«
Hier, in der Eulenburg, fühlte Kathrin sich zum ersten Mal in ihrem Leben einsam. Es gab niemanden, der sie mochte, niemanden, der sie jetzt in ihrem Krankenzimmer besucht hätte. Sie verstand nicht, woran das lag, aber bitter dachte sie, dass die anderen einfach kein Herz hatten und sich nicht die Mühe machten, einen komplizierten Menschen zu verstehen. Kathrin hielt sich für sehr kompliziert, womit sie nicht ganz unrecht hatte, aber sie vergaß, wie altklug, hochnäsig und zurückweisend sie auf Gleichaltrige wirken musste. Als einziges Kind war sie von ihren Eltern rückhaltlos verwöhnt und verhätschelt worden, und sie hatte stets viel zu viel Zeit mit Mutter und Vater verbracht, um den Umgang mit anderen Kindern, später mit anderen Jugendlichen, zu lernen. Sie spürte, dass die Kameraden sich von ihr distanzierten, versuchte, das durch besonders arrogantes Gebaren auszugleichen - und machte alles nur noch schlimmer.
Der einzige Mensch, der sich jetzt um sie kümmerte, war die Krankenschwester, eine strenge, fantasielose Person, die nicht das geringste Interesse daran hatte, sich mit ihrer Patientin zu unterhalten.
»Lassen Sie mich doch aufstehen«, bat Kathrin. »Ich bin wirklich wieder ganz gesund!«
»Du hattest Fieber, also bleibst du noch einen Tag liegen«, sagte die Schwester unnachgiebig. Kathrin seufzte. Wie langweilig! Wenigstens regnete es draußen, der Himmel war voller grauer Wolken, und unablässig pladderten Tropfen gegen die Fensterscheibe. Von unten hörte sie Stimmen. Die anderen suchten wohl ihre Gummistiefel und Regenmäntel, um eine Wanderung durch die Wiesen zu machen. Sie alberten und schwatzten.
Einfältige Gören, dachte Kathrin bitter. Es kränkte sie, dass niemand sie zu vermissen schien. Noch mehr kränkte es sie, dass Tom und seine Freunde die geheimnisvolle Einbrecherbande hatten entlarven wollen, ohne sie einzuweihen! Aber sie wollte sie schon zwingen, sie mitmachen zu lassen. Sie hatte selber ein paar Informationen zu vergeben, und dann
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