Mitternachtsschatten
was besagtes Foto in der Zeitung anging: Er war davon ausgegangen, dass es aus der Zeit vor seiner Geburt stammte.
Falsch. Er hatte hier gewohnt, auch wenn er sich nicht bewusst daran erinnern konnte. Doch er spürte eine merkwürdige Gewissheit, dass dieses Haus vor vielen, vielen Jahren sein Heim gewesen war. Der Geruch kam ihm so verdammt bekannt vor. Er war froh, dass Jilly mit dem Rücken zu ihm stand, er war sich nicht sicher, ob er weiterhin eine unerschütterliche Miene aufsetzen konnte. Er kannte diese Halle, die lange, gewundene Treppe. Er folgte Jilly wortlos, während sie Einzelheiten über das Haus herunterbetete, doch ihre Stimme wurde langsam, fast zögerlich, immer wärmer. Sie liebt dieses Haus, dachte er, sie liebt dieses Haus mit all ihrer Kraft. Sie war ein einfaches Opfer – sie trug ihr Herz auf der Zunge. Sie liebte das Haus, ihren Bruder und ihre Schwester. Er musste nur ein wenig Druck auf eines der drei ausüben, und sie würde alles tun, was er verlangte.
Sie wanderten durch Wohnzimmer, Esszimmer, Salons und Frühstückszimmer. Die Erbauer hatten an nichts gespart, das Haus erstreckte sich über mehrere hundert Quadratmeter. Es war nur sparsam eingerichtet, mit schäbigen Möbelstücken, die wie verlorene Überbleibsel einer großartigen Zeit wirkten.
„Brenda de Lorillard hatte einen Bühnenausstatter engagiert, um die Räume zu dekorieren“, sagte Jilly. „Leider wählte sie einen, der viel für Cecil B. DeMille gearbeitet hatte. Deshalb wirkt das hier mehr wie eine Theaterbühne als ein Wohnhaus.“
Sie hatte Recht, alles war unerhört kitschig, von der italienischen Tapete bis hin zu den vergoldeten Möbeln. Die riesige Küche war völlig unpraktisch eingerichtet, es gab nicht einmal eine Spülmaschine. Und auch keine Klimaanlage; trotzdem war es angenehm kühl. Vielleicht, überlegte er, liegt das ja an den Geistern.
„Und oben?“ fragte er, als sie endlich aufhörte zu erzählen.
„Die Schlafzimmer“, antwortete sie.
„Das habe ich mir fast gedacht. Ist es dort passiert?“
Sie schaute ihn überrascht an. „Ist dort was passiert?“
„Der Mord? Und der Selbstmord? Oder gabs hier noch andere Verbrechen?“ Er kannte die Antwort ja bereits, wusste jedoch nicht, ob sie sie auch kannte.
„Im großen Schlafzimmer. Aber glauben Sie mir, es gibt dort nichts zu sehen. Das Blut wurde zwischenzeitlich aufgewischt.“
„Ich möchte es trotzdem sehen.“
„Nein. Es ist jetzt mein Schlafzimmer, und ich will nicht, dass fremde Menschen darin herumlaufen.“
„Wieso nicht?“
„Ich will meine Privatsphäre.“
„Und es macht Ihnen nichts aus, in einem Zimmer zu schlafen, in dem ein Mensch ermordet wurde? Und in dem es spukt?“
„Ich habe es Ihnen bereits gesagt. Ich glaube nicht an Geister“, antwortete sie.
„Glauben Sie nicht an Geister, oder können Sie sie nur nicht sehen?“
Sie blickte ihn finster an. „Ich habe so langsam keine Lust mehr.“
„Und ich bekomme so langsam Hunger. Zeigen Sie mir einfach das Mordzimmer, und danach schlagen wir uns den Magen mit Fast Food voll. Es sei denn, Sie haben Ihre Meinung geändert und wollen nun doch in ein etwas besseres Restaurant.“
„Auch auf die Gefahr hin, dass ich mich wiederhole: Ich will mit Ihnen nirgends hingehen“, sagte sie schnippisch.
„Aber dann wird Ihr Bruder gezwungen sein, ganz alleine schwimmen zu lernen oder unterzugehen.“
Sie fiel sichtbar in sich zusammen. Coltrane war zufrieden, sie zeigte ihm mehr Gefühle als den meisten Menschen, dessen war er sich sicher.
„Also gut“, sagte sie. „Sie können mein Zimmer begaffen, und dann werden wir uns unterhalten.“ Sie drehte sich um und lief in die Halle. Er bemühte sich, sie einzuholen. Jetzt, nachdem er seine Fassung wiedergewonnen hatte, war er sehr neugierig. Schlief sie tatsächlich in einem Raum, in dem ein Mord stattgefunden hatte, ohne dass es sie kümmerte? Und würde er sich an dieses Zimmer erinnern?
Er musste beinahe lachen, als er es sah, so absurd schien es ihm. Der ultimative Kitsch, angefangen bei dem geschwungenen Bett mit den Draperien bis hin zu den üppigen, überdimensionalen Möbeln. Er trat hinter sie, ging dann in das Zimmer und schaute aus den großen Fenstern über den weiten Balkon, der sich über die komplette Länge des Hauses erstreckte. Undeutlich konnte er das dunkle Rechteck des flechtenüberwachsenen Pools erkennen, und ein merkwürdiger Schauder durchfuhr seinen Körper.
Verstohlen warf er einen
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