Mitternachtsschatten
Geruch nach Salami und Käse zu verlockend wurde, dann erst riss sie die Pappschachtel auf und stopfte sich ein Stück Pizza in den Mund. Er hatte Recht, sie war umwerfend.
„Was isst du da?“
Jilly zuckte erschrocken zusammen und sah ihre Schwester an. Rachel-Ann war blass, traurig und schön wie immer mit den herrlichen Locken und den riesigen grünen Augen.
„Pizza“, antwortete Jilly mit vollem Mund. „Die beste Pizza, die ich seit Jahren gegessen habe. Nimm dir.“
„Ich habe keinen Hunger.“ Trotzdem ließ sie sich neben Jilly nieder und nahm ein Stück. Sie starrte es lange an, als ob darin die Geheimnisse des Universums verborgen wären. „Davon abgesehen, bin ich Vegetarierin.“
„Gib mir die Salami, ich esse sie“, bot Jilly ihrer Schwester großzügig an.
Langsam, fast automatisch fischte Rachel-Ann die runden Scheiben von der Pizza und warf sie in die Pappschachtel. „Wo hast du sie her? Normalerweise bist du doch viel zu geizig, um dir etwas liefern zu lassen.“
Jilly hatte keine Lust, sie zu korrigieren. Wegen der komplizierten Bedingungen in Julia Meyers Testament gehörte das La Casa allen drei zu gleichen Teilen, und jeder hatte gleich viel Geld zum Unterhalt des Anwesens geerbt. Rachel-Ann hatte ihr Geld in Rekordzeit ausgegeben – schließlich war Kokainschnupfen eine teure Angewohnheit – und wieviel Dean noch übrig hatte, wusste Jilly nicht. Aber sie ging davon aus, dass es nicht viel war. Auf jeden Fall steuerte keiner von beiden auch nur einen Cent bei, um das alte Gebäude instand zu halten.
„Liegt wahrscheinlich an meiner schottischen Herkunft“, sagte sie fröhlich. „Davon abgesehen, dass ich die Pizza nicht bezahlt habe. Jacksons Goldjunge hat mich eingeladen.“
„Wirklich?“ Rachel-Anns Interesse war geweckt, sie biss ganz vorsichtig in die Pizza und kniff die Augen vor Vergnügen zusammen. „Sieht er so toll aus, wie behauptet wird?“
„Ja.“
„Hast du eine Affäre mit ihm?“
„Nein. Ich bin jeden Abend hier, alleine. Es wäre dir aufgefallen, wenn ich einen Liebhaber hätte.“
„Ich achte nicht sehr auf solche Dinge“, sagte Rachel-Ann, nahm noch einen Bissen, und Jilly musste zugeben, dass sie Recht hatte. Rachel-Ann fiel nicht einmal auf, ob es regnete oder die Sonne schien, sie war zu sehr in ihrer eigenen nebligen Welt gefangen. „Hm, lecker“, sagte sie. „Wenn er so herrliche Pizza besorgen kann, dann sollte ich vielleicht mit ihm schlafen.“
Aus irgendeinem Grund fand Jilly diese Bemerkung außerordentlich beunruhigend. Zwar pflegte ihre Schwester Männer zu benutzen wie ein Heuschnupfenkranker Taschentücher, doch seit sie aus der Klinik gekommen war, lebte sie völlig enthaltsam. Lange würde dieser Zustand vermutlich nicht mehr anhalten. Aber zumindest wäre Coltrane eine bessere Wahl als die meisten Männer, die Rachel-Ann in der Vergangenheit angeschleppt hatte. Er war kein Drogendealer oder Süchtiger, soweit Jilly wusste.
„Ich glaube kaum, dass das eine gute Idee ist“, sagte sie mit neutraler Stimme. „Ich vermute, er ist gefährlich.“
Falsche Wortwahl, dachte Jilly, als sie sah, wie Rachel-Anns Augen aufleuchteten. „Gefährlich, attraktiv, und er weiß, wo es die beste Pizza gibt? Das ist geradezu unwiderstehlich!“
„Widersteh ihm!“ forderte Jilly säuerlich, obwohl sie wusste, dass es keinen Sinn hatte. Rachel-Ann nahm sich, was sie wollte, und Coltrane würde sich bestimmt nicht wehren. Er war ja schon jetzt viel zu interessiert an ihrer älteren Schwester. Es war nicht schwer zu erraten, warum. Jeder wusste, dass Rachel-Ann Jacksons Lieblingstochter war. Ein ehrgeiziger Mann musste das ja ausnutzen. Jackson war offensichtlich von seinem eigenen Sohn enttäuscht und war auf der Suche nach einem ebenso klugen wie ergebenen Schwiegersohn, der seine Geschäfte eines Tages übernehmen konnte.
Zu allem Überfluss war Rachel-Ann auch noch süß, schön und tief verletzt. Nichts war einfacher, als sie zu manipulieren. Jackson hatte eine gewisse Meisterschaft darin entwickelt, und Coltrane würde ihm sicher in nichts nachstehen.
Rachel-Ann grinste. „Ich werde versuchen, ihm zu widerstehen. Wie gut sieht er denn aus?“
„Viel zu gut“, murrte Jilly. „Wir sollten uns keine Gedanken über ihn machen, geschweige denn über ihn reden. Wenn es nach mir geht, dann wird er niemals wieder ins La Casa zurückkommen. Pizza können wir gerade noch selbst bestellen, die Telefonnummer steht auf der Schachtel.
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