Mitternachtsschatten
tobte, aber sie war zu müde, um irgendwohin zu gehen.
Sie hatte auch keine Lust mehr, die Sitzungen zu besuchen. Die Leute gaben doch nur Binsenweisheiten von sich, so etwas wie: Lass einfach los, Gott wird sich schon um dich kümmern. Was, wenn es keinen Gott gab? Oder wenn er sie für so wertlos hielt, dass er sie schon vor Jahren verstoßen hatte und es keinen Weg zurück gab? Der Gott, den Rachel-Ann in ihrer Kindheit kennen gelernt hatte, war hart und unversöhnlich gewesen, außerdem hatte sie bereits zu viele Todsünden auf ihre Seele geladen, um jemals auf Vergebung hoffen zu dürfen.
Skye heute Abend bei dem Treffen zu sehen, hatte ihr dann den Rest gegeben. Geradezu unverschämt glücklich hatte sie ausgesehen! Rachel-Ann und Skye hatten sich vor etwa fünf Jahren bei einem Entzug kennen gelernt. Damals musste Rachel-Ann nur einen Blick auf Skye werfen, um zu wissen, dass sie es nicht packen würde. Niemals. Schon beim nächsten oder übernächsten Mal würde sie bestimmt eine Überdosis nehmen. Doch dann hatte Skye nicht einen einzigen Rückfall gehabt, seit fünf Jahren keinen Tropfen Alkohol getrunken und auch keine Drogen genommen. Vorausgesetzt, sie log nicht! Sie selbst hingegen war hinterher noch weitere drei Mal in die Klinik eingewiesen worden. Nicht dass sie es Skye nicht gönnte, sie freute sich ehrlich für sie. Es spielte auch gar keine Rolle, dass sie sehr viel älter aussah, als sie wirklich war, denn die Falten um ihre Augen waren durch Sonnenschein und Lachen entstanden und nicht in langen Nächten in rauchigen Kneipen. Wenn jemand wie Skye es schaffen konnte, warum dann zum Teufel sie nicht? Warum wiederholte sich bei ihr immer wieder der Weg vom Krankenhaus nach Hause, in Clubs und wieder zurück, ein ewig währender Kreis?
Rachel-Ann starrte auf den Bildschirm und sah, wie sich Pinien und Ampeln in wolkenbruchartigen Regenfällen bogen, dann schloss sie die Augen und vergrub ihren Kopf unter den Kissen. Sie hatte noch immer den Geschmack von Pizza im Mund und überlegte, ob sie nicht einfach auf die Toilette gehen und sich den Finger in den Hals stecken sollte. Zwar hatte sie das seit zehn Jahren nicht mehr gemacht, aber vielleicht war es einfacher, mit Bulimie zurechtzukommen als mit ihrer anderen Sucht. Nein, die Pizza war viel zu schade, um sie so zu vergeuden. Und der Mann, der sie bestellt hatte?
Konnte sie in ihrem Leben einen neuen Mann gebrauchen, jemanden, der sie von ihrem Verlangen ablenkte? Jemanden, an den sie denken, bei dem sie einfach jung und albern sein konnte wie nie zuvor in ihrem Leben? Langsam begann sie wieder, sich für die Männer bei den Treffen zu interessieren. Oder für einen ganz Bestimmten. Er war sehr dunkel, vermutlich Mexikaner, mit zerknitterter Kleidung und einem hübschen, abgekämpften Gesicht. Doch leider, bei den Anonymen Alkoholikern gab es jede Menge Regeln. Eine davon lautete, keine bedeutenden Veränderungen im ersten Jahr der Abstinenz zuzulassen. Aber wenn sie zuerstmal ein Jahr nüchtern sein musste, bevor sie wieder mit einem Mann schlafen durfte, dann konnte sie ja gleich ins Kloster gehen. Coltrane jedenfalls kannte diese Regeln bestimmt nicht. Irgendwie hatte sie das Gefühl, dass Jilly es nicht gerne sähe, wenn sie sich mit Coltrane einließe, und darüber wunderte sie sich. Jilly war so prüde, was Männer betraf, und die Ehe mit Alan Dunbar hatte das eher noch verschlimmert. Alan war ein Dreckskerl, ein gut aussehender, romantischer, egoistischer Dreckskerl, also eigentlich viel eher ihr Typ als Jillys. Als Liebhaber völlig rücksichtslos, hatte Rachel-Ann Spaß daran gehabt, mit ihm zu schlafen, Jilly hingegen hatte sich leer und benutzt gefühlt. Sie hatte keine Ahnung, ob Jilly damals von ihrer Affäre wusste, heute jedenfalls war es kein Geheimnis mehr, schließlich hatte sie es ihrer Schwester eines Tages gestanden, voller Reue. Und Jilly hatte ihr verziehen.
Also, vielleicht würde sie dann doch die Finger von Coltrane lassen, auch wenn er so eiskalt und wunderschön sein sollte, wie Dean behauptete. Jilly war sicherlich klug genug, um nicht auf ihn hereinzufallen, aber trotzdem wurde sie das Gefühl nicht los, dass ihre Schwester auch nicht wollte, dass irgendjemand anderes ihn bekam. Dann sollte es eben so sein, sie wollte gerne noch ein wenig dafür büßen, dass sie mit ihrem Schwager geschlafen hatte. Außerdem war es überflüssig, sich überhaupt solche Gedanken zu machen, schließlich hatte Jilly gesagt, wenn es
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