Mitternachtsschatten
Natürlich glaubte sie nicht wirklich, dass Coltrane ihren Wink verstanden hatte und für immer gegangen war. Es war ja eher ein Wink mit dem Zaunpfahl gewesen. Um ehrlich zu sein, hatte sie sich ganz und gar unmöglich aufgeführt. Daran würde sie arbeiten müssen, wenn er hier wirklich für mehrere Wochen einzog. Sie konnte ja nicht ständig mit ihm auf Kriegsfuß stehen.
Roofus sprang aus dem Wagen, hob begeistert an jedem einzelnen Baum das Bein und vor allem an den Rädern von Deans Lexus. Dann rannte er munter bellend davon, um sich auf die Suche nach möglichen Eindringlingen zu machen.
Als Jilly ihm und sich später etwas zu essen gemacht hatte, war die Nacht bereits angebrochen und umhüllte das Haus wie ein dunkles Seidentuch. Sie saß an dem verschrammten Küchentisch, der einmal Zeuge großartiger Hollywoodpartys gewesen sein musste, aß kalte Pizza und trank ihren Eistee. Roofus lag zufrieden zu ihren Füßen. Noch immer fühlte sie eine schwache Beklemmung, und sie ließ den Tag noch einmal Revue passieren, um sich selbst zu beruhigen. Das war eine alte Angewohnheit, die noch aus ihrer Schulzeit herrührte. Damals hatte sie nachts im Bett gelegen und sich den nächsten Tag mit all dem möglichen Unheil vorgestellt, sich überlegt, welcher Lehrer sie ausschimpfen würde, weil sie ihre Hausaufgaben nicht gemacht hatte, und welche Freundin gerade mal wieder böse mit ihr war.
Nüchtern betrachtet, war eigentlich keine akute Gefahr in Sicht. Gut, Coltrane wollte eine Weile hier wohnen, schlimm genug. Andererseits aber hatte er genau das getan, worum sie ihn gebeten hatte, ohne dass sie ihn lange überreden musste. Er war es gewesen, der Meyer davon überzeugte, Dean mehr Verantwortung zu geben, und solange Coltrane ihn unterstützte, konnte Dean auch nicht alles kaputtmachen. Rachel-Ann war noch nicht rückfällig geworden, Roofus lag vor ihr auf dem Boden und schnarchte leise, und die Casa de las Sombras stand auch noch. Das Leben war nie einfach, doch im Augenblick war ja alles in Ordnung. Ich sollte endlich lernen, von einem Tag auf den anderen zu leben, dachte sie.
Als Rachel-Ann die Küche betrat, war Jilly wieder besser gelaunt, vor allem, wenn man bedachte, dass die Schlange inzwischen ein Zimmer im La Casa bezogen hatte. Ihre Schwester sah blass und angespannt aus, wie Jilly erleichtert feststellte, denn das war ein deutliches Zeichen dafür, dass sie nüchtern war.
„Haben wir Besuch?“ fragte sie, ohne zu grüßen, und strich Roofus über den struppigen Kopf. Roofus himmelte sie genauso sehr an, wie er Dean verabscheute. Entzückt rollte er sich auf den Rücken und genoss ihre Aufmerksamkeit in vollen Zügen.
„Was meinst du?“
„Da steht ein Range Rover in der Auffahrt. Und Dean unterhält sich mit jemandem im Esszimmer. Ich habe gehört, wie die beiden lachten. Hat er einen Neuen?“
„Nicht direkt. Wir haben einen Neuen.“
Rachel-Ann setzte sich. „Was soll das denn heißen?“
„Wir haben einen Gast. In seinem Apartment hat es gebrannt, deswegen wird er eine Weile hier wohnen.“
„Sieht er gut aus?“
„Hör auf mit dem Unsinn, Rachel-Ann“, sagte Jilly gereizt. „Er ist nicht dein Typ.“
„Aber Deans Typ?“
„Nein, dazu ähnelt er Jackson zu sehr. Glaube mir, du solltest es vermeiden, auch nur in seine Nähe zu kommen. Egal, wie toll er aussieht.“
„Toll?“ Rachel-Ann wirkte wieder munter. Sie hatte einfach eine Schwäche für schöne Männer. Zur Hölle, sie hat eine Schwäche für jeden Mann, dachte Jilly traurig.
„Nicht dein Typ“, wiederholte sie.
„Und wie sieht es mit dir aus? Ist er vielleicht dein Typ?“ Rachel-Ann beugte sich über den Tisch und nahm sich ein Stück Pizza von Jillys Teller.
„Wie gut kennst du mich eigentlich?“
„Besser, als du dich selbst kennst, Süße“, sagte ihre Schwester. „Ist noch mehr Pizza übrig?“
„Ja. Du kannst aber auch Coltrane fragen, wo er sie bestellt hat.“
„Oh, warum hast du nicht gleich gesagt, dass es um ihn geht! Um diesen großartig aussehenden Mann, der weiß, wo es die beste Pizza gibt, und der auch noch Daddys Zustimmung findet? Was könnte sich ein Mädchen sonst noch wünschen?“
Ihr Ton klang leichtfertig, aber Jilly sank das Herz. In ihrem Kopf spulte sich wieder die alte Litanei ab, und ihr Magen krampfte sich zusammen.
„Habt ihr heute Abend keine Sitzung?“ fragte sie, um das Thema zu wechseln.
„Das geht dich zwar nichts an“, sagte Rachel-Ann, noch immer
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