Mitternachtsschatten
sein. Warum gelang es anderen, sich halbtot zu saufen und das Hirn mit Drogen fast wegzublasen und dann einfach damit aufzuhören? Warum war sie noch immer in dieser Falle gefangen, in dieser Abhängigkeit, die sie nicht kontrollieren konnte?
Nach dem Treffen gingen wie immer ein paar von ihnen noch einen Kaffee trinken, und Rachel-Ann schloss sich an, ebenfalls wie immer. Sie nippte an ihrem bittersüßen Kaffee und sagte kein Wort. Niemand zwang sie zu sprechen. Er war auch wieder da. Sie konnte sich nicht mehr erinnern, wann er ihr zum ersten Mal aufgefallen war, auf jeden Fall hatte er die letzten drei Meetings besucht, war mit ihnen Kaffee trinken gegangen und hatte sie stumm beobachtet. Er war groß, ein wenig zu dünn, seine Haare konnten einen Schnitt dringend gebrauchen, seine Kleidung war ungebügelt. Sie hatte keine Ahnung, als was er arbeitete, alles, was sie von ihm wusste, war: „Hi, mein Name ist Rico, und ich bin Alkoholiker.“ Er war Spanier oder vielleicht auch Mexikaner.
Sie konnte sich nicht überwinden, ihn anzusprechen. Oder seinen Blick zu erwidern. Es war nicht in Ordnung, dass er sie immerzu ansah, er wusste genauso gut wie sie, dass eine der wichtigsten Regeln besagte, sich im ersten Jahr mit niemandem einzulassen. Aber was sollte das? Es war doch schon schwer genug, nüchtern zu bleiben, und wenn eine kurze Bettgeschichte sie von ihrem Drang zu trinken ablenken könnte, umso besser, oder nicht? Aber nicht mit einem ehemaligen Alkoholiker! Er würde ihr wahrscheinlich daurnd irgendwelche Vorträge halten, sie zu weiteren Treffen schleppen, auch wenn sie keine Lust mehr dazu hatte. Sie konnte sich ja schon jetzt nicht erklären, warum sie noch immer hinging, obwohl sie es so sehr hasste. Vermutlich, weil sie nichts Besseres zu tun hatte, und die einzige Alternative war, zu Hause bei den Geistern zu bleiben.
Sie saß direkt neben Rico in eine kleine Nische gezwängt, mit Leuten, deren Leben sie besser kannte als das ihrer Geschwister. Susan war eine Prostituierte am Sunset Strip gewesen – und sie sah der herrlichen Julia-Roberts-Version nicht im Geringsten ähnlich. Sie wog weit über einhundert Kilo, war fast so groß wie Jilly, mit schlechten Zähnen und den freundlichsten Augen der Welt.
Dann gab es da noch Maggie, eine allein erziehende Mutter von drei Kindern. Durch den Alkohol hatte sie ihre Kinder verloren, sie hatte einfach alles verloren, aber die Anonymen Alkoholiker wurden nicht müde zu behaupten, dass das der einzige Weg war, gesund zu werden. Man musste erst mal ganz, ganz unten sein.
Rachel-Ann kam es so vor, als sei sie schon verdammt oft ganz unten gewesen und könne nicht mehr tiefer sinken. Warum empfand sie dann nicht diese stille Gelassenheit wie all die anderen? Dass sie dann schließlich doch auf Rico reagierte, lag nur daran, dass der Abend mit Coltrane sie so frustriert hatte. Sie wollte einen Mann, irgendeinen Mann, und dieser hier war stark und verfügbar. Sie konnte ihn bitten, sie heimzufahren. Jede Ausrede, nicht allein zu sein und in das dunkle Haus mit den Geistern zurückkehren zu müssen, war ihr recht.
Aber dann hatte sie doch kein Wort gesagt, sondern nur beobachtet, wie er in einen alten Plymouth stieg und in die Hollywood-Nacht hineinfuhr …
Rachel-Ann bewegte sich selbst wie ein Geist durch das Haus und hoffte, dass die beiden schon schliefen. Selbst Geister mussten doch bestimmt mal schlafen, oder vielleicht nicht? Sie wusste ganz genau, wer sie waren, diese Geschichte des Mordes und darauf folgenden Selbstmordes kannte ja jeder. Brenda de Lorillard hatte ihren verheirateten Liebhaber in den Hinterkopf geschossen und sich dann selbst getötet. Ihr Ruhm war im Verblassen gewesen, Ted Hughes’ Ehefrau hatte unverschämte Forderungen gestellt, also hatte sie einfach eine Pistole genommen und ihrem und seinem Leben ein Ende gesetzt. Und nun beobachteten die beiden sie und warteten ab, gefangen in dem Haus, das einmal Zeuge ihrer großen Leidenschaft gewesen war.
Rachel-Ann war schon fast am Fuß der Treppe angekommen, als sie es roch. Den Duft von Ted Hughes französischen Zigaretten, vermischt mit Brendas Parfüm. Diese Kombination war mit nichts anderem vergleichbar, und manchmal, wenn sie nur halb schlief, tröstete sie dieser Geruch. Aber nur, bis sie ganz erwachte und wieder wusste, woher er kam.
Nervös blickte sie über die Schulter, während sie die Treppe hochlief, aber von den beiden war nichts zu sehen, es gab nur das verräterische
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